Ein spektakuläres Diesel-Urteil, Entscheidungen zur Wissenschaftsfreiheit, zum Wahlrecht von Minderjährigen oder dem Umgang mit Parteien wie der NPD – eine Reihe von Urteilen der Leipziger Richter wird nachhaltig in Erinnerung bleiben.
1/10: Fahrverbote für Diesel-Fahrzeuge zulässig
Ein Gericht nach dem anderen verbannt mittlerweile ältere Diesel aus den Städten. Den Startschuss hierfür gab das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Februar, als es feststellte, dass Fahrverbote in Städten grundsätzlich zulässig seien (Urt. v. 28.02.2018, Az. 7 C 26.16 u. 7 C 30.17). Seitdem können Städte eigenmächtig Verbote anordnen. Eine bundesweite Regelung ist nicht erforderlich, so das BVerwG.
Ihr Urteil sieht zudem Übergangsfristen und eine phasenweise Einführung von Fahrverboten vor. Außerdem soll es Ausnahmeregelungen etwa für Handwerker geben. Eine finanzielle Ausgleichspflicht lehnte das Gericht ab. "Gewisse Wertverluste sind hinzunehmen", sagte der Vorsitzende Richter Andreas Korbmacher. Die zuständigen Landesbehörden hätten es in der Hand, einen "Flickenteppich" zu verhindern.
2/10 Drei volle Tage zum (Abschlepp-)Glück
Erst nach Ablauf von drei vollen Tagen dürfen am vierten Tag Pkw aus einem mobilen Halteverbot abgeschleppt und die Kosten dem Halter auferlegt werden. Das stellte das BVerwG im Mai klar (Urteil v. 24.05.2018, Az. 3 C 25.16). Was Studierende und Examenskandidaten schon länger ahnten, ist damit nun durch das Revisionsgericht ausdrücklich einmal entschieden worden. Die gegenteilige Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Münster (OVG), wonach auch schon 48 Stunden ausreichen würden, wurde ausdrücklich verworfen.
Damit leisteten die Leipziger Richter in der dritten Instanz auch einen Beitrag zur Rechtsvereinheitlichung. Bislang hatten sich die Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe etwa in Hamburg, Baden-Württemberg oder Bayern auf die Seite des BVerwG gestellt und mehr als 72 Stunden (nämlich drei Tage mit Abschleppkostenrisiko ab dem vierten Tag) angesetzt. In Hessen wiederum diskutierte man, ob nicht besser zwischen Werk-, Sonn- und sonstigen Feiertagen unterschieden werden müsse. Das OVG NRW unterbot mit 48 Stunden alle.
Jetzt ist der Sonderweg der Rheinländer und Westfalen beendet. Das Abschlepp-Glück setzt auch dort fortan zum gleichen Zeitpunkt ein wie in Baden, Hessen oder Franken.
3/10 Geheimdienst darf weiter Rechenzentren anzapfen
Der Auslandsgeheimdienst Bundesnachrichtendienst (BND) darf weiter in Deutschland an einem privaten Internetknoten Daten abgreifen, entschied das BVerwG.
Der BND darf damit weiter in großem Stil bei dem privaten Betreiber eines Internetknotenpunktes in Frankfurt am Main Daten abgreifen (Urt. v. 30. Mai 2018, Az. 6 A 3.16). Und das Bundesinnenministerium darf per Anordnung das Unternehmen zwingen, bei der strategischen Überwachung des BND mitzuhelfen. Dagegen hatte sich der Betreiber De-Cix gewehrt, der sich nicht zum "Komplizen" des BND machen wollte.
Das Aufgabengebiet des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND liegt zwar in der Informationsbeschaffung mit Auslandsbezug, allerdings macht er sich seit Jahren einen Standortvorteil im Zentrum von Deutschland zunutze: In Frankfurt am Main liegt der nach eigenen Angaben weltgrößte Internetknotenpunkt.
Durch ihn fließen jeden Tag mehr als fünf Terabyte pro Sekunde, in Form von E-Mails, WhatsApp-Nachrichten, Chats, Social Media Posts – von über 700 Internetdiensteanbietern aus mehr als 60 Ländern, aus Russland genauso wie aus dem Nahen Osten, aus Asien wie auch aus Deutschland. Und damit im großen Stil auch durch die digitalen Finger des BND.
Das BVerwG stellte klar, dass sich das Unternehmen De-Cix zwar auf die Berufsfreiheit nach Art. 12 Grundgesetz (GG) berufen könne, allerdings nicht auf den Schutz des Fernmeldegeheimnisses aus Art. 10 Abs. 1 GG. "Dieses Grundrecht schützt die Vertraulichkeit der Telekommunikationsverkehre", teilt das BVerwG mit. "Darauf kann sich jedoch die Klägerin in ihrer Eigenschaft als Vermittlerin von Telekommunikationsverkehren nicht berufen."
4/10 Wer ist das (Wahl-)Volk?
16- und 17-Jährige durften 2014 in Heidelberg an den Wahlen zum Gemeinderat teilnehmen. Zu Recht, denn das baden-württembergische Kommunalwahlrecht, das ein solches "Minderjährigenwahlrecht" erlaubt, ist mit dem Grundgesetz vereinbar, entschied das BVerwG im Juni (Urt. v. 13.06.2018, Az. 10 C 8.17).
Geklagt hatten Bürger der Stadt Heidelberg. Sie erhoben gegen die Gemeinderatswahl Einsprüche mit der Begründung, dass das Wahlrecht für Bürger zwischen 16 und 18 Jahren mit dem Demokratieprinzip und zahlreichen weiteren Verfassungsbestimmungen nicht vereinbar sei.
Im Zentrum des Konflikts stand dabei eine Norm der Gemeindeordnung Baden-Württemberg (GemO BW). Die Vorschrift definiert, wer Bürger einer baden-württembergischen Gemeinde ist und das aktive und passive Wahlrecht bei den Gemeindewahlen innehat. Seit 2013 billigte die Regelung allen Deutschen im Sinne von Art. 116 GG und allen Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Gemeindebürgerschaft zu, die das 16. Lebensjahr vollendet sowie seit mindestens drei Monaten ihren Wohnsitz in der fraglichen Gemeinde haben. Auf Basis dieser Regelungen fanden im Mai 2014 in Heidelberg Wahlen zum Gemeinderat statt.
Das BVerwG erachtete die Rechtgrundlage und damit ein Kommunalwahlrecht für Minderjährige für verfassungskonform: Ein Mindestalter von 18 Jahren für das aktive Wahlrecht bei Kommunalwahlen ergebe sich nicht aus dem Grundgesetz (GG). Die entsprechende Festlegung in Art. 38 Abs. 2 GG gelte nur für Bundestagswahlen und entfalte für Kommunalwahlen keine maßstabsbildende Kraft. Auch die Grundsätze der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG) stünden der Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre nicht entgegen. Eine Teilnahme an Wahlen setze "ein ausreichendes Maß an intellektueller Reife voraus". Dieses habe der baden-württembergische Gesetzgeber bei Bürgern zwischen 16 und 18 Jahren ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht bejaht.
05/10 Abschreckungseffekt kann Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen
Ausweisungen, um andere Ausländer von rechtswidrigem Verhalten abzuschrecken, sind auch nach dem neuen Ausweisungsrecht zulässig – auch wenn möglicherweise ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht greift.
Im Ausländerrecht können generalpräventive Gründe auch nach dem seit 2016 geltenden neuen Ausweisungsrecht ein Ausweisungsinteresse begründen, das der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis regelmäßig entgegensteht. Das entschied das BVerwG im Juli (Urt. v. 12. 07.2018, Az. 1 C 16.17). Der Entscheidung lag die Klage eines nigerianischen Staatsangehörigen zugrunde, der eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen begehrt hatte.
Der Nigerianer hatte 2010 und 2011 jeweils einen Strafbefehl wegen einer Verletzung der sogenannten Residenzpflicht kassiert, er hatte also ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde deren Bezirk verlassen. 2013 dann wurde er Vater eines deutschen Kindes. Jetzt beantragte er auch eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge. Dabei legte er einen Pass vor. Die in dem Pass angegebene Identität entsprach allerdings nicht derjenigen, unter der er seinen Asylantrag gestellt und bislang in Deutschland gelebt hatte, was er denn auch einräumte.
In der ersten Instanz hatte das VG Sigmaringen geurteilt (Urt. v. 17.03.2016, Az. 3 K 496/14), dass ein Ausweisungsinteresse bestehe, um andere vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer von der Begehung vergleichbarer Taten abzuhalten. Ähnlich sah es auch das BVerwG, allerdings reichten die Leipziger Richter dem Nigerianer einen "Rettungsanker": Möglicherweise stehe ihm ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu. Über dieses zu urteilen, sah sich das BVerwG mangels der erforderlichen tatrichterlichen Feststellungen seitens der Vorinstanz gehindert.
06/10 Monogamie kein Teil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
Ein Syrer, der hierzulande zwischenzeitlich als Bauingenieur arbeitete und eine deutsche Frau heiratete, verschwieg bei seiner Einbürgerung eine in Damaskus geschlossene Zweitehe. Deutscher kann er laut BVerwG (Urt. v. 29.05.2018, Az. 1 C 15.17) trotzdem werden.
Die Frage, wer Deutscher werden darf, ist in Zeiten hitziger Einwanderungsdebatten politisch aufgeladen. Im landläufigen Verständnis ist die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft nämlich nicht nur eine Formalie, sie ist für viele auch Ausdruck gemeinsamer Werte und von ideeller Zugehörigkeit. Und tatsächlich sieht auch das Gesetz dies so.
Einbürgerung funktioniert in Deutschland über mehrere Schienen, darunter z. B. die sogenannte privilegierte Einbürgerung als Ehegatte eines deutschen Staatsbürgers. Personen, die einen Deutschen heiraten, "sollen" nach dem Gesetz auch Deutsche werden dürfen, wenn, so verlangt es § 9 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), "gewährleistet ist, daß sie sich in die deutschen Lebensverhältnisse einordnen". Jenseits dessen kann auch eingebürgert werden, wer eine Reihe anderer Voraussetzungen erfüllt, darunter etwa einen gesicherten Lebensunterhalt, ausreichende Sprachkenntnisse, Aufgabe der vorigen Staatsbürgerschaft und - dieser Tage gern zitiert - ein Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung nachweisen kann.
Zu letzterer gehört aber nicht die Monogamie, wie das BVerwG entschied. Denn auch wenn er mit zwei Frauen verheiratet sei: Ein glaubhaftes Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung könne der Mann dennoch abgeben, befand das BVerwG. Die beiden Begriffe seien schließlich nicht gleichzusetzen: Gegenüber den "deutschen Lebensverhältnissen", die relativ weit ausgelegt werden könnten, sei die Umschreibung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung enger zu ziehen.
07/10 Wenn der Zweitkorrektor durchfallen lässt
Wer im juristischen Examen vom Erstkorrektor noch mit vier, vom Zweitkorrektor aber mit drei Punkten bewertet wird und schließlich durchfällt, darf sich ärgern. Besonders begründen muss der Zweitprüfer seine Ansicht aber nicht, so das BVerwG (Beschl. v. 24.10.2018, Az. 6 B 151.18).
Endgültig durchgefallen im zweiten Examen - das bedeutet: kurz vor dem Ziel gescheitert. Und als ob das nicht schon bitter genug wäre, hat der Erstkorrektor der entscheidenden Klausur diese ursprünglich noch mit den rettenden vier Punkten bewertet, bevor schließlich der Zweitkorrektor intervenierte und den Prüfling durchfallen ließ. So geschehen im Fall eines gescheiterten Examenskandidaten aus Hessen, der vor Gericht gegen die Bewertung seiner Klausuren vorging.
Doch nur weil der Prüfling damit das Examen letztlich nicht besteht, muss der Zweitkorrektor seine Bewertung nicht in gesteigertem Maße begründen, entschied das BVerwG. Es liege "auf der Hand", so die Leipziger Verwaltungsrichter, dass die Begründung der Zweitprüferin im vorliegenden Fall ausreichend gewesen sei. Schließlich habe sie bei ihrer ursprünglichen Korrektur noch gar nicht wissen können, ob der Prüfling wegen ihrer Bewertung sein Examen nicht bestehen werde. Somit kann der Mann nicht mehr Assessor werden.
08/10 Fingerabdrücke für später
Auch wenn jemand nicht (mehr) Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren ist, darf die Polizei gegen seinen Willen seine Fingerabdrücke nehmen. Es könnte ja sein, dass sie später mal gebraucht werden, so das BVerwG (Urt. v. 27.06.2018, Az. 6 C 39.16).
Erkennungsdienstliche Behandlungen sind für Beschuldigte in einem Strafverfahren regelmäßig überaus unangenehm und stellen einen nicht unerheblichen Eingriff in ihre Rechte dar. Doch auch nach Wegfall der eigentlichen Beschuldigteneigenschaft kann die Polizei erkennungsdienstliche Maßnahmen nach der Strafprozessordnung (StPO) durchführen. Laut BVerwG erlaubt die einschlägige Vorschrift (§ 81b StPO) eine weite Auslegung des Beschuldigtenbegriffs, da ihr Zweck nicht im konkreten Ermittlungsverfahren begründet sei.
Soweit die Maßnahme zur Vorsorge für künftige Ermittlungen notwendig sei, genüge sie dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot und verletzte den Betroffenen auch nicht in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, so das BVerwG. Es reichten Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Betroffene künftig wieder mit guten Gründen als Verdächtiger anderer Straftaten in Betracht gezogen werden könnte und die erkennungsdienstlichen Unterlagen den Ermittlungen dann förderlich sein könnten.
09/10 NPD-Kreisverband darf Girokonto eröffnen
Parteien haben Anspruch auf Gleichbehandlung, wenn es um die Eröffnung eines Girokontos geht - und zwar auch dann, wenn sie verfassungsfeindliche Ziele verfolgen. Gewährt eine Bank dem Kreisverband einer anderen politischen Partei die Möglichkeit, bei ihr ein Girokonto zu eröffnen, darf sie die Eröffnung eines Girokontos für die Berliner Kreisverbände der NPD nicht verweigern, entschied das BVerwG Ende November (Urt. v. 28.11.2018, Az. 6 C 2.17 und 6 C 3.17).
Der Anspruch auf Eröffnung eines Girokontos folge aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Parteien. Dabei ist nach Auffassung der Leipziger Richter auch nicht entscheidend, dass die Partei verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Eine solche Partei könne zwar von der Parteienfinanzierung ausgeschlossen werden. Aufgrund des in Art. 21 Abs. 2 GG verankerten Parteienprivilegs dürfe die Verwaltung die politische Betätigung der Partei oder ihrer Gebietsverbände aber nicht in Anknüpfung an ihre verfassungswidrige Zielsetzung einschränken oder behindern.
Die Bank hatte sich im Verfahren unter anderem darauf berufen, dass der Kreisverband gar nicht wirksam gegründet worden sei und deshalb ein Anspruch auf Gleichbehandlung der Parteien ausscheide.
Das sahen die Leipziger Richter anders: Die Kreisverbände seien als wirksam gegründete, nicht rechtsfähige Vereine und damit als Parteien anzusehen. Die gerichtliche Kontrolle beschränke sich allein auf die Prüfung, ob die Mitglieder der Kreisverbände die Gründung beschlossen und einen Vorstand gewählt haben und ob der Landesverband der NPD die Kläger anerkannt hat.
10/10 Gesetzeswortlaut einfach ignoriert
Im Zusammenhang mit der Wissenschaftsfreiheit erteilte das BVerwG im Juni dem Wissenschaftsministerium in Niedersachsen eine Lehrstunde in Sachen Auslegung von Gesetzen (Urt. v. 28.06.2018, Az. 2 C 14/17).
Das Land Niedersachsen hatte der Vizepräsidentin der Hochschule Hannover gekündigt – ohne dabei, wie das BVerwG befand, elementare Auslegungsgrundsätze zu berücksichtigen¬ wie zum Beispiel klare Aussagen im Wortlaut der Norm.
Der 2. Senat des BVerwG stellte unmissverständlich fest, dass die Wissenschaftsfreiheit ein bedeutendes Grundrecht und maßgeblich für den Erfolg des deutschen Hochschul- und Forschungssystems sei. Aber sie stehe auch nicht im rechtsfreien Raum oder schlage andere Verfassungsgrundsätze. Eine verfassungskonforme Auslegung, möge sie auch im besten Interesse der Wissenschaftsfreiheit erfolgen, schlage beispielsweise nicht die Wortlautgrenze.
Die Entscheidung wird als "wichtiges Signal für die Rechtspraxis" interpretiert: Es gebe "keinen Schutz der Wissenschaftsfreiheit um jeden Preis", analysierte so unser LTO-Gastautor.
Sollte man kennen: Zehn wichtige Urteile des BVerwG aus 2018 . In: Legal Tribune Online, 21.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32881/ (abgerufen am: 05.07.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag