Urlaub, kirchliche Arbeitgeber: Das Gericht in Luxemburg hat auch 2018 die eine oder andere lieb gewonnene Praxis auf den Kopf gestellt. Und dann war da noch der Brexit.
1- Brexit: EuGH öffnet die Tür
Weiter hätte der Europäische Gerichtshof (EuGH) dem Austrittkandidaten Großbritannien die Tür nicht öffnen können: Die Luxemburger Richter entschieden, dass das Vereinigte Königreich seine Austrittserklärung frei und einseitig wiederrufen könne (Urt. v. 10.12.2018, Az. C-621/18). So wenig überraschend dieses Urteil nach den Schlussanträgen noch war, brachte es doch neue Überlegungen.
Andere Mitgliedstaaten, der Rat, das Parlament oder die Kommission könnten souveränen Entscheidungen eines Mitgliedstaates nicht wirksam entgegentreten, befand der EuGH. Dies begründete er mit Art. 50 Abs. 2 des EU-Vertrages: Für die Austrittserklärung und deren Widerruf müssten dieselben Regeln gelten. Kern der Begründung des Gerichtshofs ist ein neu geschaffenes Prinzip, nach dem kein Mitgliedstaat gegen seinen Willen zum Verlassen der Europäischen Union gezwungen werden kann. Mit dem Wiederruf würden die Austrittsverhandlungen beendet und ein bereits ausgehandeltes Austrittsabkommen hinfällig.
2 - Urlaub auch ohne Antrag
Wer nicht einmal einen Urlaubsantrag gestellt hat, bekommt auch keinen und der Resturlaub verfällt? Das war mal so – doch dann sprach der EuGH klärende Worte: Urlaub verfällt nicht automatisch zum Jahresende oder spätestens am 31.3. des Folgejahres, entschieden die Richter (Urt. v. 06.11.2018, Az. C-619/16 und C-684/16).
So eine Entscheidung ergeht freilich nicht ohne ein "es sei denn". Und hier ist es: Der Urlaub verfällt nicht, es sei denn, der Arbeitgeber hat seinen Angestellten aufgefordert, den Urlaub zu nehmen und ihn ausreichend darüber informiert, dass er sonst verfallen kann – entweder am Ende des zulässigen Übertragungszeitraums oder bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Diese Entscheidung bedeutet nichts weniger, als dass eine lieb gewonnene und ehrlich gesprochen auch für Arbeitnehmer hinreichend faire Praxis über Bord geworfen wurde. Noch dazu ist damit eine Norm im deutschen Arbeitsrecht obsolet geworden: § 7 Abs. 3 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) zur eingeschränkten Übertragbarkeit des Urlaubsanspruchs ins Folgejahr.
3 - Urlaubsanspruch für die Erben
Der zweite Schlag für das deutsche Urlaubsrecht war das Thema der Vererbbarkeit. Der Urlaub sei ein höchstpersönlicher Anspruch, hieß es stets hierzulande. Nur, wenn der Anspruch auf finanzielle Abgeltung schon entstanden sei, könne dieser auch vererbt werden, war die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG).
Europa sieht die Sache anders. Bestehen zum Zeitpunkt des Todes noch Urlaubsansprüche, so gehen diese auf die Erben über und müssen in Geld ausgezahlt werden, entschieden die Luxemburger Richter (Urt. v. 6.11.2018, Az. C-569/16 und C-570/16). Wenn das deutsche Recht dies nicht erlaube, könne sich der Erbe unmittelbar auf das Unionsrecht berufen.
4 - Filesharing und Familienangehörige
Tatsächlich deckt sich die Entscheidung des EuGH zum Filesharing mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH): Die pauschale Erklärung, ein Familienmitglied nutze ebenfalls den Internetanschluss, reicht nicht aus, um sich in einem Schadensersatzprozess wegen illegalem Filesharing rauszureden, entschied der EuGH (Urt. v. 18.10.2018, Az. C-149/17). Der Anschlussinhaber müsse zumindest nähere Einzelheiten zu Zeitpunkt und Art der Nutzung des Anschlusses durch dieses Familienmitglied mitteilen.
Der Bundesgerichtshof hatte zuvor in seiner "Afterlife"-Entscheidung geurteilt, es sei ausreichend, wenn der Anschlussinhaber offenlege, wer bei ihm zu Hause zum Zeitpunkt der Rechtsgutverletzung noch Zugang zum Internet hatte - mehr könne von ihm zum Schutz der Familiensphäre nicht verlangt werden. Zwar wurden vor dem BGH durchaus Familienmitglieder als Zeugen vernommen. Die Beweislast für den Anspruch liegt aber beim Rechteinhaber. Kann der die täterschaftliche Haftung nicht beweisen, ist das im Einzelfall hinzunehmen, so die Meinung in Karlsruhe.
Der Spruch aus Luxemburg steht damit im Einklang mit den Grundsätzen des BGH: Nach wie vor wird der Tatrichter den Vortrag der Parteien mit den Mitteln des Zivilprozesses zu beurteilen und letztlich unter Anwendung der allgemeinen Beweislastregeln die Frage nach der Verantwortlichkeit zu klären haben.
5 - Fall Egenberger: Bewerberauswahl nach Religionszugehörigkeit
Der Fall Egenberger rollte das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland neu auf: § 9 Abs. 1 1. Alt. des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) stehe nicht in Einklang mit der Antidiskriminierungsrichtlinie und dürfe daher nicht mehr angewendet werden, urteilte der EuGH (Urt. v. 17.04.2018, Az. C-414/16). Die EU-Grundrechtcharta gehe ebenfalls vor.
Die Kirchen können sich nicht mehr pauschal auf ihr aus Art. 140 Grundgesetz (GG) i. V. m. Art 137 Abs. 2 Weimarer Reichsverfassung abgeleitetes Selbstbestimmungsrecht berufen. Dieses beinhaltet, dass sich die Kirchen ihre Arbeitnehmer anhand der Religion selbst aussuchen dürfen. Mit dem EuGH-Urteil müssen sie sich nun eine Überprüfung ihrer Entscheidung durch die nationalen Gerichte mindestens in Hinblick auf die drei Kriterien "wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt" gefallen lassen.
Das BAG hat den Fall bereits entschieden: Die Kirche kann gegenüber einer konfessionslosen Bewerberin für eine Referentenstelle nicht auf die fehlende Religionszugehörigkeit verweisen, um sie abzulehnen (Urt. v. 25.10.2018, Az.: 8 AZR 501/14). Die Frau bekam eine Entschädigung zugesprochen.
6 - Chefarzt: Kündigung nach Wiederheirat
Wie katholisch muss der Chefarzt einer Klinik sein? Das wird das BAG im Februar noch mal zu untersuchen haben. Der EuGH hat dazu die Eckdaten vorgegeben: Die Kündigung eines leitenden Mitarbeiters durch einen katholischen Arbeitgeber wegen einer Wiederheirat kann eine verbotene Diskriminierung darstellen (Urt. v. 11.09.2018, Az. C-68/17).
Ein angestellter katholischer Chefarzt eines durch die Caritas betriebenen katholischen Krankenhauses hatte erneut geheiratet und bekam dafür die Kündigung. Doch so einfach ist das nicht: Auch die Kirchen müssten sich gerichtlich überprüfen lassen – das hatte der EuGH schon im Fall Egenberger entschieden.
Die nationalen Gerichte müssten also auch im Fall des Chefarztes schauen, ob die Religion im Hinblick auf die Art der betreffenden Tätigkeit eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstelle. Der EuGH teilte seine Zweifel mit, ob die Akzeptanz des von der katholischen Kirche befürworteten Eheverständnisses für die Tätigkeit als Chefarzt wirklich eine wesentliche berufliche Anforderung darstelle. Ob das BAG das genau so sieht, werden die Erfurter Richter am 20. Februar verkünden.
7 - Schülerreferat: Urheberrechte beim Foto-Upload
So bedeutsam können Schülerreferate sein: Eine Schule in Nordrhein-Westfalen veröffentlichte auf ihrer Internetseite ein Foto einer Stadt in Spanien als Teil eines Schülerreferats. Das Foto war zuvor auf einer anderen Website, auf die auch hingewiesen wurde, frei zugänglich. Dennoch bedürfe es bei der erneuten Verwendung der Zustimmung des Urheberrechtsinhabers, entschied der EuGH (Urt. v. 07.08.2018, Az. C-161/17). Das Foto werde beim erneuten Einstellen einem neuen Personenkreis zugänglich gemacht.
Vom EuGH und auch vom BGH gibt es bereits Entscheidungen zu Hyper- und Inline-Linkings (Framing). Diese Rechtsprechung des EuGH greife beim ganz neuen Hochladen des Werkes jedoch nicht. In diesem Fall werde es dem Urheber unmöglich gemacht oder zumindest erheblich erschwert, die neue Wiedergabe des Fotos zu beenden.
Hyperlinks seien im Internet heutzutage zwar unverzichtbar, das sieht auch der EuGH so. Sie ermöglichten die Verbreitung von Informationen im Internet, das sich eben durch die Verfügbarkeit immenser Informationsmengen auszeichne. Das gelte aber nicht, wenn keine Zustimmung des Urheberrechtsinhabers vorgelegen habe.
8 - Anleiheankäufe: Die EZB darf das
Auch mit dem Ankauf von Staatanleihen musste sich der EuGH befassen – auf Vorlage des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Das steht der Praxis der Europäischen Zentralbank (EZB) kritisch gegenüber, mit der Deflationsgefahren begegnet, das wirtschaftliche Wachstum gefördert, dem Rückgang der Realzinssätze entgegen gewirkt und die Kreditvergabe der Geschäftsbanken ausgeweitet werden sollte. Die EZB hatte das Programm im März 2015 beschlossen, seitdem kaufte sie jeden Monat für 60 Milliarden Euro öffentliche Anleihen von Mitgliedstaaten auf den Finanzmärkten. Das Gesamtvolumen dieser Käufe beträgt inzwischen mehr als 2,5 Billionen Euro. Das BVerfG befürchtete eine verdeckte Staatsfinanzierung zu Lasten des deutschen Steuerzahlers.
Der EuGH entschied hingegen, das Programm verstoße nicht gegen das Unionsrecht. Es gehe nicht über das Mandat der EZB hinaus und verletze auch nicht das Verbot der monetären Finanzierung (Urt. v. 11.12.2018, Az. C-493/17).
9 - Polen: Vollstreckung des europäischen Haftbefehls
Europäische Haftbefehle müssen doch selbstverständlich von einem Mitgliedstaat vollstreckt werden? Könnte man meinen, nicht aber im Jahre 2018. Ein solcher Haftbefehl aus Polen, dem Land, das mit der Erweiterung im Jahre 2004 Mitglied der EU wurde, darf nur nach einer sorgfältigen Prüfung vollstreckt werden. Die Justizbehörden der Mitgliedstaaten müssten über ein zweistufiges Verfahren sicherstellen, ob den Betroffenen in Polen ein faires Verfahren erwarte, befanden die Luxemburger Richter (Urt. v. 25.07.2018, Az. C-216/18 PPU).
Zunächst müsse abstrakt-generell geklärt werden, ob in Polen etwa aufgrund mangelnder Unabhängigkeit der Gerichte eine "echte Gefahr" bestehe, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren verletzt werde. Im zweiten Schritt sei zu prüfen, "ob es unter den gegebenen Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird".
Dazu müsse das zuständige Gericht, in diesem Fall ein irisches, die nötigen Informationen einholen: Wirken sich die systemischen Mängel im polnischen Justizsystem konkret-individuell zum Nachteil des Betroffenen aus und erleidet dieser eine Verletzung seines Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht? Damit werde dann der Wesensgehalt seines Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet und der Mitgliedstaat dürfe den Europäischen Haftbefehl eines anderen Mitgliedstaates nicht vollstrecken.
10 - Ende der privaten Schiedsverfahren
Die Verkürzung der Laufzeiten der Atommeiler nach der Atomkatastrophe in Fukushima hat der Bundesrepublik eine Klage eines Investors eingebracht. Diese wird in einem Schiedsverfahren verhandelt – einer Form der Streitlösung abseits ordentlicher Gerichte, die regemäßig in sogenannten Investitionsschutzabkommen zwischen Ländern und ausländischen Investoren vorgesehen ist. Dass dieses Verfahren als Schiedsverfahren geführt wird, bedeutet u.a.: es findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Auf derartige private Schiedsverfahren müssen Investoren aus EU-Staaten künftig verzichten, sofern sich ihre Klage gegen einen anderen EU-Mitgliedstaat richtet (Urt. v. 06.03.2018, Az. C-284/16). Solche Schiedsklauseln seien unvereinbar mit der Autonomie des EU-Rechts und dem Rechtschutzsystem innerhalb der EU, entschieden die Richter in Luxemburg. Es sei entscheidender Bestandteil dieses Systems, dass der Rechtsschutz Einzelner und die (verbindliche) Auslegung des EU-Rechts originäre Aufgabe der nationalen Gerichte und des EuGH sei.
Sollte man kennen: 10 wichtige Urteile des EuGH . In: Legal Tribune Online, 18.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32795/ (abgerufen am: 01.07.2024 )
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