"Das Amtlichste, was es gibt": Arne Sems­rott wegen Ver­öf­f­ent­li­chung von Gerichts­be­schlüssen ver­warnt

von Dr. Felix W. Zimmermann

18.10.2024

Kann die frühzeitige Veröffentlichung von Gerichtsbeschlüssen pauschal strafbar sein? Das Landgericht Berlin I hält § 353d StGB Norm für verfassungsgemäß, hat den FragDenStaat-Chef Arne Semsrott allerdings überaus milde verurteilt. 

Das Landgericht (LG) Berlin I hat Arne Semsrott, Chefredakteur und Projektleiter der Transparenzplattform "FragDenStaat", wegen verbotener Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen (§ 353d Strafgesetzbuch (StGB)) schuldig gesprochen (Urteil vom 18.10.2024 – 536 Kls 1/24). Die Verurteilung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu 50 Euro behielt es sich vor. Semsrott wurde nach § 59 StGB verwarnt. Die Geldstrafe müsste er nur zahlen, wenn er sich innerhalb einer Bewährungszeit von einem Jahr nach Rechtskraft des Urteils erneut strafbar macht. 

Semsrott veröffentlichte im August 2023 Beschlüsse aus dem Ermittlungsverfahren gegen die "Letzte Generation". Genau das ist aber nach dem Wortlaut des § 353d Nr. 3 StGB strafbar. Dieser verbietet – ohne ausdrückliche Ausnahme oder Abwägungsmöglichkeit – die Veröffentlichung bestimmter Dokumente in laufenden Strafverfahren, nicht aber nach deren Abschluss. Das Strafbarkeitsrisiko ist Semsrott bewusst eingegangen, hatte er im Vorfeld gegenüber LTO erklärt. Er hält die Strafnorm für verfassungswidrig, da sie gegen die Pressefreiheit verstoße, und strebt eine erneute Überprüfung der Norm durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) an. 1985 und 2014 hatte das BVerfG die Strafnorm jeweils für verfassungskonform erklärt.

Verteidiger: Veröffentlichung deckte "Lüge" der Generalstaatsanwaltschaft München auf

Nachdem bereits am ersten Verhandlungstag intensiv diskutiert wurde, warfen Semsrotts drei Verteidiger in ihren Schlussplädoyers weitere Argumente in die Waagschale. Dr. Benjamin Lück betonte, das Ansehen der Justiz kein Grund, die frühzeitige Veröffentlichung von Beschlüssen unter Strafe zu stellen. Die Pressefreiheit gebiete, dass man gerade "schlecht begründete" Beschlüsse im laufenden Verfahren kritisieren können müsse. Rechtsanwältin Hannah Voss verwies auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), wonach ein Veröffentlichungs-Totalverbot unzulässig sei und eine Abwägung stattfinden müsse. "Nichts anderes als ein Freispruch ist hier verhältnismäßig". 

Verteidiger Lück, Voss, Theune und Angeklagter Semsrott, picture alliance/dpa | Bernd von JutrczenkaVerteidiger Dr. Lukas Theune plädierte dafür, die Strafnorm nicht auf Gerichtsbeschlüsse anzuwenden. Nur die Veröffentlichung habe zudem eine “Lüge” der Generalstaatsanwaltschaft München über die angebliche Berücksichtigung der Pressefreiheit in den Beschlüssen aufdecken können. Zudem sei auch die Wissenschaftsfreiheit tangiert. Würde Semsrott verurteilt, müssten auch die Herausgeber der NStZ (Neue Zeitschrift für Strafrecht) angeklagt werden, u.a. Thomas Fischer, so Theune. Dort sei ebenfalls ein Beschluss aus dem Ermittlungsverfahren, in diesem Fall einer des Landgerichts, veröffentlicht worden. "Oder soll hier mit zweierlei Maß gemessen werden?", fragt Theune.

Schließlich ergriff der Angeklagte Semsrott das letzte Wort und führte aus, dass das bloße Vorhandensein des Gesetzes eine "Schere im Kopf" bei Journalisten erzeugen würde, was zu schlechterer Berichterstattung und damit zu einer schlechteren öffentlichen Diskussion führe.

Gerichtsbeschlüsse sind “das Amtlichste, was man sich vorstellen kann”

Doch das LG Berlin I unter dem Vorsitz von Bo Meyer entsprach den Anträgen von Semsrotts Verteidigern, das Verfahren auszusetzen und dem BVerfG vorzulegen, nicht. Vielmehr sprach es den Transparenzaktivisten schuldig. Der Tatbestand sei dem Wortlaut nach klar erfüllt. Eine Herausnahme von Gerichtsentscheidungen aus dem Anwendungsbereich komme nicht in Betracht. Denn dort sei von amtlichen Dokumenten die Rede und schließlich seien Gerichtsbeschlüsse "das Amtlichste, was man sich vorstellen kann." Eine Vorlage an das BVerfG komme nicht in Betracht, da das Gericht nicht von der Verfassungswidrigkeit der Norm überzeugt sei.

Das BVerfG habe in dem 1980er-Jahren festgestellt, dass die Norm geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sei, um die Funktionsfähigkeit des Strafverfahrens zu schützen. Dabei gehe es darum, die unbedingte Neutralität des Gerichts zur Erforschung der materiellen Wahrheit zu wahren. Wenn wortwörtliche Ermittlungsergebnisse oder -beschlüsse breit in der Öffentlichkeit diskutiert würden, entstehe der Eindruck, dass nicht ausschließlich das Gericht, sondern die Öffentlichkeit über den Ausgang des Verfahrens entscheide. Meyer zog als Extrembeispiel den "Schauprozess" heran, bei dem letztlich die Öffentlichkeit ihr Urteil fälle. Um die Unabhängigkeit der Justiz vor öffentlicher Einflussnahme zu schützen, würden auch Gerichtsverhandlungen aus gutem Grund nicht live übertragen.

LG Berlin: § 353d StGB heutzutage "erst recht" notwendig

Auch wenn die Norm des § 353d StGB aus dem Kaiserreich stamme, sei diese auch 40 Jahre nach der Verfassungsgerichtentscheidung nicht "aus der Zeit gefallen". Im Gegenteil, angesichts des Medienwandels und "Shitstorms" auf Social Media sei sie sogar hochaktuell und ein Schutz der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege heutzutage "erst recht" notwendig. Die Kammer meint also, dass dass Zeuginnen und Zeugen sowie Laienrichter im Social-Media-Zeitalter, durch Veröffentlichung vorläufiger Ermittlungsergebnisse, viel stärker beeinflusst werden können. 

§ 353d StGB stelle einen "verfassungsgemäßen Kompromiss zwischen der Pressefreiheit und der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege" her. Denn sie erlaube die Wiedergabe von Inhalten aus Beschlüssen in indirekter Rede. Richter Meyer verwies auf LTO- und taz-Berichterstattung, in der – ohne wörtlich zu zitieren – ebenfalls kritisch über die Beschlüsse berichtet worden sei. Seine implizite Botschaft an dieser Stelle: Pressefreiheit geht ja auch ohne wörtliches Zitieren.

LG sieht besondere Gefahren bei wörtlichen Zitaten

Vorsitzende Richter Bo Meyer, dpa | Bernd von JutrczenkaDass das wörtliche Zitat mehr Authentizität und Glaubwürdigkeit in Zeiten von Fake News vermittelt, lässt die Kammer nicht als Argument durchgreifen, sondern sieht im wörtlichen Zitat eher eine besondere Gefahr. Gerade die Kombination aus wortwörtlichen Zitaten mit amtlicher Autorität und Bewertungen sei gefährlich. Denn sie könne dazu führen, dass die Öffentlichkeit die Bewertung des Verfahrens vorwegnehme, bevor das Gericht ein Urteil gefällt habe. Genau dies wolle § 353d StGB verhindern. 

Als Beispiel für eine solche "Macht des Faktischen" führte Meyer Anklageschriften an. Wenn diese veröffentlicht würden, vermittele dies bei vielen Bürgern den Eindruck, dass das dort Geschriebene als Wahrheit feststehe. Ähnliches gelte für Beschlüsse von Ermittlungsrichtern. Diese seien gar nicht für die Öffentlichkeit geschrieben, sondern für die Verfahrensbeteiligten. Dies sei auch der Grund dafür, dass im Hinblick auf die Ermittlungsmaßnahmen gegen die Letzte Generation nicht ständig von einem Anfangsverdacht gesprochen worden sei, sondern der Beschluss sich so las, dass der Verdacht zutreffe. 

Daran gab es vielfache Kritik. Doch derartige Formulierungen, so Meyer, seien völliger Usus bei Ermittlungsrichtern, auch solchen beim Bundesgerichtshof. Denn es sei sprachlich leichter, so einen Beschluss in feststellender Sprache zu verfassen; die Verfahrensbeteiligten wüssten genau, dass damit keine abschließende Beurteilung gemeint sei. Nicht jedoch die Öffentlichkeit, die diese Formulierungen als finale Festlegung von Gerichten fehlinterpretieren könne. Auf die naheliegende Alternative derartige Beschlüsse, so zu formulieren, dass durch die Betonung des bloß bestehenden Anfangsverdachts kein Zweifel an der Unschuldsvermutung aufkommt, ging Meyer dabei nicht ein.  

LG: Semsrotts Verhalten “am unteren Ende der Strafbarkeit”

Intensiv widmete sich Richter Meyer allerdings der Rechtsprechung des EGMR, der einem Pauschalverbot der frühzeitigen Veröffentlichung von amtlichen Dokumenten eine Absage erteilt hatte. Stattdessen fordert des Gerichtshof eine Abwägung, bei der Kriterien wie unter anderem der öffentliche Anlass, die Sachlichkeit und die Achtung des Persönlichkeitsrechts einbezogen werden. Die Kammer stand nun vor der Herausforderung, das Abwägungsgebot irgendwie zu berücksichtigen – die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) hat den Rang eines einfachen Gesetzes –, obwohl sie selbst davon ausgeht, dass § 353d gar keine Abwägung verlangt. Dogmatisch ausgedrückt: § 353d ist ein sogenanntes abstraktes Gefährdungsdelikt, bei dem es für die Frage der Tatbestandsmäßigkeit gerade nicht auf den Einzelfall ankommt.

• In der neuen Folge des LTO-Podcast "Die Rechtslage" diskutieren wir intensiv über das Urteil im Fall Semsrott und wie es wohl vor dem BGH weitergehen wird.

Die Kammer ließ sich dafür einiges einfallen: Sie stellte klar, dass sie Semsrotts Verhalten nach den Abwägungskriterien des EGMR in den meisten Punkten nicht für sonderlich strafwürdig hält. Semsrott habe sachlich geschrieben, es bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse an der Diskussion über die Justizentscheidungen, zudem hätten die Beschuldigten der Veröffentlichung zugestimmt. Allein der Umstand, dass der Bericht vollständig online gestellt wurde und nicht nur auszugsweise zitiert wurde, sei problematisch, da sich so der Beschluss alleinstehend im Internet verbreiten könnte. Im Ergebnis sei das Handeln von Semsrott aber am unteren Ende der Strafbarkeit einzuordnen. Und insofern sei ein weiteres Kriterium des EGMR zu beachten, nämlich die Verhältnismäßigkeit der Strafe.

All dies habe das Gericht aber auch berücksichtigen wollen und daher eine Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO wegen geringer Schuld vorgeschlagen. Darauf gingen aber Semsrott und seine Verteidiger nicht ein. Denn sie wollen ja gerade – unterstützt durch die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) – eine Klärung der Frage durch das BVerfG erreichen. "Wir wollen von dieser Kammer eine Entscheidung", so Theune am ersten Verhandlungstag, LTO berichtete. 

Milder geht’s kaum

Diesen Gedanken legte sie dann auch der Strafzumessung zugrunde, indem sie – nach einer Einstellung – eine sehr geringe Sanktion verhängte, nämlich eine bloße Verwarnung nach § 59 StGB. Die sehr milde Strafe von 20 Tagessätzen zu 50 Euro muss Semsrott nur dann zahlen, wenn er nach Rechtskraft des Urteils innerhalb einer Bewährungszeit von einem Jahr erneut straffällig wird, stellte Richter Meyer fest.

Das LG ist also der Ansicht die Rechtsprechung des EGMR zu beachten, auch wenn es den Tatbestand ohne Abwägung für erfüllt ansieht.  Es betont, dass es dem EGMR auf das Ergebnis eines einzelnen Verfahrens ankomme und er nicht einzelne Strafnormen bewerte. Und die vom EGMR geforderte Abwägung lässt das Gericht dann nicht innerhalb der Norm auf Tatbestandsebene stattfinden, sondern bei der von ihm bejahten Frage einer Einstellungsmöglichkeit und der Strafzumessung.

Dass der BGH bald die Überzeugungskraft dieses dogmatischen Ansatz klären muss, steht bereits fest. Semsrott wird Revision gegen das Urteil einlegen. "Das Landericht hätte mich freisprechen müssen. Das hat es nicht getan. Aber dies bietet die Gelegenheit, dass der Bundesgerichtshof, das nachholen kann", so Semsrott gegenüber LTO. 

Ob sich der dann zuständige BGH-Strafsenat der Auffassung seiner Kolleg:innen aus dem VI. Zivilsenat des BGH anschließt, wird sich zeigen. Der hatte entschieden, dass die Bestimmung in Konflikt mit der Meinungs- und Pressefreiheit steht und sich für eine eingeschränkte "konventionskonforme" Auslegung der Strafnorm ausgesprochen. 

Zitiervorschlag

"Das Amtlichste, was es gibt": . In: Legal Tribune Online, 18.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55662 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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