Strafverfahren gegen Arne Semsrott: Auf wel­chem Weg geht’s nach Karls­ruhe?

von Dr. Max Kolter

15.10.2024

Am Mittwoch beginnt vor dem LG Berlin I der Prozess gegen "FragDenStaat"-Chef Arne Semsrott. Er hat Gerichtsbeschlüsse gegen die "Letzte Generation" verbotswidrig veröffentlicht. Es geht um die Pressefreiheit – ein Fall für das BVerfG?

Arne Semsrott, der Chefredakteur und Projektleiter der Transparenzplattform "FragDenStaat", ist vor dem Landgericht (LG) Berlin I angeklagt. Der Grund: Semsrott veröffentlichte im August 2023 Durchsuchungsbeschlüsse aus dem Ermittlungsverfahren gegen die "Letzte Generation" im Wortlaut. Normaler Alltag für einen Journalisten und Transparenz-Aktivisten, sollte man meinen – allerdings dürfte das in Deutschland nach § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar sein. Dieser verbietet – ohne Ausnahme oder Abwägungsmöglichkeit – die Veröffentlichung bestimmter Dokumente in laufenden Strafverfahren.

Das Risiko ist Semsrott bewusst eingegangen. "Mir war bei der Veröffentlichung bekannt, dass es den Paragrafen gibt und dass er problematische Auswirkungen auf die journalistische Arbeit hat", sagt er gegenüber LTO. Weil er den maßgeblichen Straftatbestand aber für verfassungswidrig hält, veröffentlichte er trotzdem und provozierte damit die Anklage gegen sich.

Da der Sachverhalt feststeht und das LG Berlin I das Hauptverfahren eröffnet hat, ist zu erwarten, dass es Semsrott zu einer Geldstrafe verurteilen wird. Dass das LG die Sache nach der Verhandlung am Mittwoch und Freitag dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorlegen wird, ist unwahrscheinlich – wohl vor allem deshalb, weil Karlsruhe § 353d Nr. 3 StGB bereits zweimal abgesegnet hat.

"Letzte Generation" als Ausgangspunkt

Konkret verbietet die Norm die Veröffentlichung der Anklageschrift oder "anderer amtlicher Dokumente" eines Strafverfahrens "im Wortlaut". Das Verbot greift nur so lange, bis die Dokumente in der mündlichen Hauptverhandlung "erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist". Damit betrifft das Verbot Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss bis zum Beginn der Hauptverhandlung und – wie in Semsrotts Fall – Gerichtsbeschlüsse im Ermittlungsverfahren. 

Im August 2023 hatte Semsrott auf der Website von FragDenStaat – im Wesentlichen ungeschwärzt – drei Beschlüsse des Amtsgerichts München veröffentlicht. Diese betrafen Durchsuchungen bei den Klimaaktivisten der "Letzten Generation" sowie die Überwachung eines Pressetelefons.

Aus Semsrotts Sicht ermöglichte dies der Öffentlichkeit, sich selbst ein Bild von dem Ermittlungssachverhalt und der vorläufigen rechtlichen Würdigung durch den Ermittlungsrichter zu machen. An der Veröffentlichung bestehe also ein öffentliches Interesse – und dieses zu befriedigen, sei Aufgabe der Presse. Deshalb sehen er, die ihn unterstützende Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und mehrere Journalistenverbände in § 353d Nr. 3 StGB eine Verletzung der Pressefreiheit

Ob die Norm tatsächlich gegen Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verstößt, kann allein das BVerfG abschließend beantworten. Dazu müsste Semsrott entweder durch alle Instanzen ziehen – oder das LG legt den Fall direkt gemäß Art. 100 GG nach Karlsruhe vor. 

BVerfG hat § 353d StGB zweimal abgesegnet

Das wird Semsrotts Verteidiger Dr. Lukas Theune am Mittwoch wohl auch vorrangig beantragen. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass die Strafkammer dem nachkommen wird. Einen entsprechenden Antrag im Zwischenverfahren, also zwischen Anklageerhebung und Eröffnungsbeschluss, lehnte sie ab. Das liegt daran, dass das BVerfG § 353d StGB schon 1985 und 2014 für verfassungskonform erklärt hat. Eingriffe in Grundrechte seien wegen des Schutzzwecks der Norm gerechtfertigt. Aber worin besteht dieser Schutzzweck? Warum darf man wörtlich aus Durchsuchungsbeschlüssen zitieren, sobald sie Thema in der Hauptverhandlung waren, aber nicht vorher? Warum darf man sie vollständig sinngemäß wiedergeben und indirekt im Konjunktiv zitieren, aber nicht wörtlich?

Der Gesetzgeber von 1974 hatte die Vorschrift damit begründet, die "Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten, namentlich von Laienrichtern und Zeugen, zu schützen". § 353 Nr. 3 StGB will verhindern, dass spätere etwaige Schöffen und Zeugen bereits vor Prozessbeginn die Meinung eines Ermittlungsrichters zu den Vorwürfen erfahren. Darüber hinaus – das stellte der Sonderausschuss für die Strafrechtsreform damals klar – soll der Beschuldigte vor Bloßstellung geschützt werden.

Diese Zwecke erkannte das BVerfG in seinen beiden Entscheidungen an. In einem Grundsatzurteil vom 3. Dezember 1985 (Az. 1 BvL 15/84) hielt der Erste Senat § 353d Nr. 3 StGB im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle für verfassungskonform. Hier ging es um einen Fall, in dem die Presseberichterstattung ohne den Willen des Beschuldigten erfolgte. 2014 klärte das BVerfG dann, dass diese Grundsätze auch dann gelten, wenn der Beschuldigte mit der Veröffentlichung einverstanden ist; ja sogar dann, wenn er – wie hier – die Beschlüsse aus seinem eigenen Strafverfahren selbst veröffentlicht. Mit Beschluss vom 27. Juni 2014 (Az. 2 BvR 429/12) nahm der Senat seine Verfassungsbeschwerde gegen eine rechtskräftige Verurteilung wegen § 353d StGB nicht zur Entscheidung an. Da die Vorschrift jedenfalls auch dem Schutz der Rechtspflege, nämlich der Unbefangenheit von Schöffen und Zeugen, diene, spiele das Einverständnis des Beschuldigten keine Rolle.

BGH-Zivilsenat macht Journalisten Hoffnung

Auch Prof. Dr. Thomas Fischer, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof (BGH), ist deshalb skeptisch, warum sich das BVerfG erneut mit dem Straftatbestand auseinandersetzen sollte. Er sehe nicht, warum Semsrotts Fall "besondere rechtshistorische Bedeutung" haben sollte, die einer grundsätzlichen Klärung bedürfe, schrieb Fischer im März auf LTO. “Der Grundsatz ist seit 40 Jahren geklärt.”

Semsrott, Theune und die GFF setzen darauf, dass das BVerfG sich noch einmal intensiv mit den Auswirkungen der Norm auf die – in der 2014er Entscheidung nicht betroffenen – Pressefreiheit auseinandersetzt. Sie betonen, wie wichtig gerade wörtliche Zitate für eine authentische Medienberichterstattung seien. "Es ist wichtig zu klären, dass auch bei laufenden Gerichtsverfahren eine faktenbasierte Arbeit mit Originaldokumenten möglich ist", so Semsrott gegenüber LTO. “Gerade in Zeiten der Vertrauenskrise und Desinformation ist es besonders wichtig für die Presse, originalgetreu zitieren zu können.”

Rückenwind gibt ihnen insofern ein Urteil des BGH in einem zivilrechtlichen Verfahren aus Mai 2023 (Az. VI ZR 116/22). Hier entschied der VI. Zivilsenat, dass die Süddeutsche Zeitung wörtlich aus den Tagebüchern des Ex-Bankers Christian Olearius zitieren durfte, LTO berichtete. Dem wörtlichen Zitat komme wegen seiner Belegfunktion ein besonderer Dokumentationswert für die journalistische Berichterstattung zu. In dem Urteil wiesen die Richter auch auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hin aus dem Jahr 2011 hin. Die Straßburger Richter werteten als Verstoß gegen die Pressefreiheit, dass eine portugiesische Journalistin wegen frühzeitiger Veröffentlichung einer Anklageschrift ohne Abwägung im Einzelfall zu einer Geldstrafe verurteilt worden war (Urt. v. 28.06.2011, Az. 28439/08).

Nächste oder übernächste Station: Karlsruhe

Ob Semsrott und Theune das LG Berlin I vor diesem Hintergrund doch noch von der Notwendigkeit einer BVerfG-Vorlage überzeugen können, wird sich in der Hauptverhandlung in Moabit zeigen. Immerhin hatte auch die Staatsanwaltschaft eine "besondere Bedeutung des Falles" gesehen und deshalb trotz niedriger Straferwartung nicht vor dem Amts-, sondern vor dem Landgericht angeklagt. Und dieses hat für Mittwoch und Freitag immerhin zwei Verhandlungstage angesetzt.

Sieht die Strafkammer keinen Grund, nach Karlsruhe vorzulegen, dürfte es Semsrott verurteilen. Die Chancen auf einen Freispruch sind gering. Denn Ausnahmen von dem Verbot und Abwägungsmöglichkeiten im Einzelfall sieht das Gesetz gerade nicht vor. Auch wird eine Strafbarkeit nicht daran scheitern, dass § 353d Nr. 3 StGB die wortlautgetreue Veröffentlichung nur unter Strafe stellt, wenn sie das Dokument "ganz oder in wesentlichen Teilen" erfasst. Denn vorliegend hat Semsrott die Beschlüsse vollumfänglich hochgeladen und nicht bloß einzelne Passagen wörtlich zitiert.

Im Falle einer Verurteilung werden Semsrott und die GFF Revision zum BGH einlegen. Für den 5. Strafsenat in Leipzig stellt sich dann erneut die Frage einer konkreten Normenkontrolle. Solange sich das BVerfG kein drittes Mal mit der Norm befasst, heißt es für Journalisten vor Beginn der Hauptverhandlung: im Zweifel gegen die wortgetreue Wiedergabe. Denn auch bei einzelnen wörtlichen Zitaten aus einem Durchsuchungs-, Beschlagnahme oder Eröffnungsbeschluss droht eine Strafverfolgung. Das musste der t-online-Journalist Carsten Janz kürzlich erfahren. Ihn verurteilte das Amtsgericht Hamburg zu einer Geldstrafe, weil er "zwei wesentliche Teilsätze" aus einem Durchsuchungsbeschluss zitierte. Auch der Fall geht in die nächste Instanz.

Zitiervorschlag

Strafverfahren gegen Arne Semsrott: . In: Legal Tribune Online, 15.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55633 (abgerufen am: 16.10.2024 )

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