Mindestanforderungen an familienpsychologische Gutachten: "Qua­li­fi­ziert, wis­sen­schaft­lich und trans­pa­rent"

von Anne-Christine Herr

06.10.2015

2/2: "In erster Linie Psychologen und Ärzte"

LTO: Aktuell gibt es ja überhaupt keine gesetzliche Regelung zur Qualifikation von Sachverständigen im Kindschaftsrecht. Welche neuen Anforderungen stellen Sie für die Zukunft an deren inhaltliche Sachkunde? 

Kannegießer: Hier gibt es zwei wesentliche Punkte, mit denen die Empfehlungen der Expertengruppe sogar höhere Anforderungen an die Qualifikation des Sachverständigen stellen als der Regierungsentwurf zur Reform des Sachverständigenrechts.

Ausgehend von den in der Regel psychologischen Fragestellungen sollen Sachverständige in erster Linie Psychologen und vereinzelt klinischen Fragestellungen Psychologen mit klinischer Expertise bzw. Ärzte sein. Darüber hinaus müssen sie über forensische, also familienrechtliche Sachkunde und Erfahrungen verfügen. Diese können sie auf unterschiedlichem Weg erwerben. Für "Einsteiger" bietet sich vor allem eine curriculare Weiterbildung wie die zum "Fachpsychologen für Rechtspsychologie" an. Diese haben auch den Vorteil, dass überprüft wird, ob die Experten sich regelmäßig fortbilden. So bleiben ihre Kenntnisse immer auf dem neuesten Stand.

"Wissenschaftlich, transparent und nachvollziehbar"

LTO: Wie sehen die Anforderungen aus, die Sie künftig an ein Gutachten stellen?

Kannegießer: Die drei wesentlichen Aspekte, an denen sich ein Gutachten messen lassen muss, sind wissenschaftlich fundiertes Vorgehen, Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Diese Anforderungen sind im Papier in detaillierten Empfehlungen zum Vorgehen und Verfassen eines Gutachtens konkretisiert.
Beispielsweise müssen Gutachter nach der Aktenanalyse ihre Hypothesen bilden, ihre Untersuchung planen und dieses im Verlaufe der Begutachtung möglichweise immer wieder anpassen. Ihr Vorgehen müssen sie dann im Gutachten nachvollziehbar darstellen, beispielsweise wann sie wie lange mit welchen Beteiligten gesprochen haben, welche Untersuchungsmethoden eingesetzt wurden und auf welchen unterschiedlichen Quellen ihre Empfehlungen beruhen. Dies gilt auch in den Fällen, in denen der Gutachter auf ein Einvernehmen hinwirkt.

Diese Punkte werden den Sachverständigen als Orientierung überreicht. Dies ist besonders relevant, um eine Standardisierung bei einzelnen, in Fachkreisen kontrovers diskutierten Aspekten zu erreichen. Außerdem sollen die anhand dieser Empfehlungen erstellten Gutachten auch für die am Prozess Beteiligten transparenter und nachvollziehbarer werden.

"Wir gehen davon aus, dass diese Standards direkt umgesetzt werden"

LTO: Welche Qualität haben Ihre Empfehlungen? In der Präambel weisen Sie darauf hin, dass sie "keine Kriterien für die Überprüfung einer Gerichtsentscheidung im Rechtsmittelverfahren im Sinne rechtlich verbindlicher Mindeststandards" seien. Warum nicht? Ist das so nicht ein zahnloser Tiger? Das klingt nach einem zäh ausgehandelten Kompromiss?

Kannegießer: Natürlich können die Empfehlungen keinen Gesetzescharakter haben. Dadurch sind sie aber kein "zahnloser Tiger". Denn die anerkannten und vergleichbar entwickelten Empfehlungen für den Bereich der Schuldfähigkeits- und Prognosebegutachtung ("Bötticher"-Papiere) zeigen, dass dieses Konzept zur Qualitätsverbesserung aufgeht. In diesen Gutachtenbereichen sind die Empfehlungen die Standards, an denen sich alle Beteiligten orientieren. Diese "Bötticher"-Papiere waren auch die Vorbilder für die neu erstellten Mindestanforderungen an Gutachten im kindschaftsrechtlichen Verfahren.

Gerade das Familienrecht belegt, dass auch Empfehlungen wirksam in die Rechtsprechung eingehen können - nehmen Sie die Düsseldorfer Tabelle. Das sind Leitlinien für den Unterhaltsbedarf, nach denen sich alle richten.

Die vorliegenden Mindeststandards wurden interdisziplinär entwickelt und mit rechtspsychologischen Kolleginnen und Kollegen aus Wissenschaft und Praxis diskutiert. Dies stellt sicher, dass alle wichtigen theoretischen und praktischen Anforderungen effektiv miteinander kombiniert wurden. Auch wenn das Papier die fachliche Diskussion weiter befördern wird, gehen wir davon aus, dass diese Standards in der Rechtspraxis direkt umgesetzt und langfristig etabliert werden können.

"Auch Richter und Anwälte brauchen eine bessere Qualifikation"

LTO: Die Empfehlungen sprechen an, dass sich neben den Sachverständigen auch Rechtsanwälte und Richter aus-, fort- und weiterbilden sollten, konkretisieren dies aber nicht. Wie stellen Sie sich dies denn vor?

Kannegießer: In den Fachgesprächen waren sich Vertreter aller beteiligten Professionen einig, dass es nicht allein ausreicht, die Qualität der Gutachten selbst zu verbessern. Auch die anderen Beteiligten, also Richter und Anwälte, brauchen eine bessere Qualifikation.
Der Anwalt muss ein Gutachten verstehen, nachvollziehen und seinen Mandanten näher bringen können, ohne Konflikte weiter zu schüren oder eskalieren zu lassen.

Und gerade der Richter, der den Sachverständigen bestellt und die Beweisfragen formuliert, muss sich in den verschiedenen Qualifikationen auskennen und auch die relevanten spezifischen Fragen stellen können.

In den Mindestanforderungen finden sich zur Unterstützung der Juristen "Fragen für Familienrichter zu Mindestanforderungen an die Qualität von SV-GA im Kindschaftsrecht". Sie sollen den Richtern als Orientierung dienen, um einen fundierten Beweisbeschluss zu formulieren und anschließend das schriftliche Gutachten nachvollziehen und qualifiziert bewerten zu können. 

Um jedoch auch die Kompetenz der Juristen zu verbessern, müsste man z.B. über Verbesserungen in der juristischen Ausbildung nachdenken oder sie zu spezifischen Fort- und Weiterbildungen, z.B. im Bereich der Mediation, zu Erkenntnissen aus der Trennungs- und der Scheidungsforschung verpflichten. Eine Fortbildungspflicht besteht für Richter derzeit überhaupt nicht, auch wenn sie schon lange diskutiert wird. Das sind aber alles Gesichtspunkte, die man langfristig angehen muss.

Dr. jur. Anja Kannegießer ist als Juristin und Fachpsychologin für Rechtspsychologie  als selbständige Rechtsanwältin und forensische Gutachterin im Bereich des Familienrechts und der Aussagepsychologie tätig. Sie ist Vorsitzende der Sektion Rechtspsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) und Vorsitzende des Fachgremiums Rechtspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (BDP/DGPs).

Die Fragen stellte Anne Herr.

Zitiervorschlag

Anne-Christine Herr, Mindestanforderungen an familienpsychologische Gutachten: . In: Legal Tribune Online, 06.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17103 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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