Noch können Familienrichter Sachverständige in Sorgerechts-Prozessen frei wählen. Das führt häufig zu Fehlurteilen. Anja Kannegießer hat mit anderen Experten einen Katalog erstellt, um die Qualität forensischer Gutachten zu sichern.
LTO: Frau Dr. Kannegießer, Sie haben zusammen mit einer Expertenrunde von Juristen, Psychologen und Medizinern auf Initiative des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz einen Katalog von Mindestanforderungen erarbeitet, um die Qualität familienpsychologischer Gutachten in Gerichtsverfahren zu steigern. Warum ist ein solcher Katalog überhaupt erforderlich?
Kannegießer: In familienrechtlichen Prozessen genügen manche der meist entscheidungserheblichen Gutachten nicht wissenschaftlichen Anforderungen - und das bei so bedeutsamen Fällen wie dem Sorgerecht oder dem Umgang mit dem eigenen Kind. Das liegt vor allem daran, dass es hier bislang keine verbindlichen Standards gibt. Familienrichter sind relativ frei und können auch gering qualifizierte Gutachter als Sachverständige einsetzen, deren Vorgehen teilweise nicht wissenschaftlich fundiert ist.
Untersuchungen zeigen, dass sich die Qualität der Gutachtertätigkeit verbessert, wenn sie durch gewisse Standards gelenkt wird. Solche festen Anforderungen gibt es bereits in anderen forensischen Gutachtenbereichen, wo sie entweder Gerichte oder interdisziplinäre Arbeitsgruppen entwickelt haben.
Konkreten Anlass zur Expertenrunde gaben sicherlich einige umstrittene Entscheidungen und Studien, die in den Medien und der Politik eine Diskussion um die Qualität forensischer Gutachten angestoßen haben.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit fehlerhafte Gutachten beanstandet. Im Koalitionsvertrag haben die Regierungsparteien daher vereinbart, "in Zusammenarbeit mit den Berufsverbänden die Qualität von Gutachten, insbesondere im familiengerichtlichen Bereich verbessern" zu wollen.
"Gerichte haben unkritisch fehlerhaftes Gutachten übernommen"
LTO: Wie verhält ihr Katalog sich zum Vorhaben der Regierung, das Sachverständigenrecht zu reformieren?
Kannegießer: Die jetzt entwickelten Standards sollen zu einem zweiten, parallelen Strang in der Qualitätssicherung neben den aktuellen gesetzgeberischen Aktivitäten werden. Natürlich können wir Dinge in unserem Papier ausführlicher, konkreter und spezifischer regeln als ein Gesetz es kann.
LTO: Was genau hat das Bundesverfassungsgericht zu den fehlerhaften Gutachten festgestellt?
Kannegießer: Ein Fall von 2014 hat für großes Aufsehen gesorgt. Das Gericht hat damals sehr deutlich das Vorgehen des Gutachters und des Gerichts kritisiert. In einem Prozess um die Entziehung des Sorgerechts seiner Tochter hatte die Gutachterin dem aus Ghana stammenden Vater unter anderem wegen "afrikanischer Erziehungsmethoden" die Fähigkeit abgesprochen, sich verantwortlich um seine Tochter zu kümmern.
Dieses Gutachten hielten die Verfassungsrichter insbesondere deshalb für fragwürdig, weil es sich nicht angemessen mit der Frage der Kindeswohlgefährdung auseinandersetze. Bei der Frage der Fähigkeit, Kinder zu erziehen, dürften nicht die subjektiven Vorstellungen des Gutachters oder die des Staates die elterlichen Vorstellungen ersetzen. Auch fanden die Richter deutliche Hinweise darauf, dass es dem Gutachter an der gebotenen Neutralität fehlte – so habe sie mehrfach unsachlich auf die Herkunft des Mannes hingewiesen.
Trotzdem hatten sowohl erste als auch zweite Instanz das Gutachtenergebnis in ihren Beschlüssen unkritisch übernommen und die offensichtlichen Mängel nicht rechtlich gewürdigt.
Mindestanforderungen für Sachverständige und Gutachten
LTO: Mit welchen wichtigsten Neuerungen wollen Sie gegen diese beanstandete Praxis vorgehen?
Kannegießer: Es ist das erste Mal, dass ein Papier berufsübergreifend die zentralen Mindestanforderungen zusammenstellt, die Sachverständige und ihre Gutachten im Kindschaftsrecht vor Gericht erfüllen müssen und in welchen Schritten der Experte vorzugehen hat. Die Punkte sind extra knapp und überschaubar gehalten, damit sie praktikabel für die Praxis sind. Sie berücksichtigen, dass jeder Beteiligte im familiengerichtlichen Verfahren aus seiner spezifischen Rolle und Perspektive auf die Thematik schaut. Schließlich nehmen die Empfehlungen Stellung zu der Frage, ob ein mangelbehaftetes Gutachten noch verwendet werden kann. Da Mängel oftmals heilbar sind, führt nicht jeder Fehler zur dessen Unbrauchbarkeit im gerichtlichen Verfahren.
Anne-Christine Herr, Mindestanforderungen an familienpsychologische Gutachten: . In: Legal Tribune Online, 06.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17103 (abgerufen am: 24.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag