Das Straßenverkehrsrecht soll künftig neben der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs auch Umwelt-, Klimaschutz und städtebauliche Entwicklung berücksichtigen, um flexibler zu werden. "Paradigmenwechsel" oder nur "wenig Konkretes"?
Das Kabinett hat am Mittwoch eine Reform des Straßenverkehrsrechts beschlossen: Künftig sollen neben der Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs auch andere Ziele wie Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz sowie die städtebauliche Entwicklung Berücksichtigung finden. Damit setzt die Bundesregierung eine Selbstverpflichtung aus dem Koalitionsvertrag um.
Die Reform soll "Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume […] eröffnen", heißt es in der Zielbeschreibung des am Dienstag vorgestellten Referentenentwurfs (RefE) des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMVD). Die Behörden sollen mehr Flexibilität bei der Stadt- und Verkehrsplanung haben.
Bisher ist das nach Ansicht der Regierung und vieler Verkehrsexpert:innen nicht ausreichend der Fall: Die behördlichen Befugnisse sind in Rechtsverordnungen geregelt, vor allem in der Straßenverkehrsordnung (StVO). Jeder Zebrastreifen, jeder Radweg und jedes Tempolimit gilt als "Beschränkung des Straßenverkehrs" im Sinne des § 45 Abs. 1 StVO, die nur unter den dort sowie in Abs. 9 genannten Voraussetzungen zulässig sind.
Bisheriges Verkehrsrecht blockiert Verkehrswende und Städtebau
Abs. 1 erlaubt regelnde Anordnungen des Straßenverkehrs nur "aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs". Für Verkehrszeichen – Zebrastreifen, Radwege und Tempolimits gibt es nicht ohne entsprechende Schilder – gilt zusätzlich Abs. 9 der Norm. Der beinhaltet noch schärfere Anforderungen und erlaubt Verkehrszeichen "nur dort […], wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist".
Welche Konsequenzen der Sicherheitsfokus haben kann, verdeutlicht exemplarisch der "Zebrastreifen, den es nicht geben dürfte", wie der Spiegel es nannte. Ein Zebrastreifen gegenüber einer Schule, der auf dem Schulweg oder für den Gang zur Mensa überquert werden muss. Obwohl hiergegen eigentlich niemand etwas einwenden kann, äußerte die zuständige Behörde Bedenken an der Rechtmäßigkeit. Auch hier der Knackpunkt: § 45 Abs. 9 StVO.
Weitere anschauliche Beispiele aus der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung sind Pop-Up-Radwege oder die längerfristige Sperrung der Berliner Friedrichstraße für den Autoverkehr: Beide Vorhaben waren (zwischenzeitlich) kassiert worden, weil die jeweiligen Behörden die Voraussetzungen des § 45 StVO nicht hinreichend belegt hatten, zum Beispiel mit Unfallstatistiken und Verkehrszählungen. Nach bisheriger Rechtslage blockiert also das Straßenverkehrsrecht Verkehrswende und Städtebau.
Dr. Almut Neumann, Juristin und Bezirksstadträtin in Berlin-Mitte (Grüne), nannte dies gegenüber dem Spiegel den "Erst-muss-es-krachen"-Ansatz. Das ZDF resümierte im vergangenen Sommer: "Es musst erst etwas passieren, damit etwas passiert."
Eine Änderung des StVG und der StVO halten Expert:innen daher schon seit Jahren für erforderlich. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, Helmut Dedy, sagte, die Städte forderten seit langem vom Bund mehr Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume im Verkehrssektor. "Das gilt für ein Parkraummanagement und Gebühren ebenso wie für Geschwindigkeitsbeschränkungen und neue Verkehrskonzepte."
Mehr Handlungsspielraum für Behörden
Die Forderung nach einer Reform schaffte es auch in den Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung "Mehr Fortschritt wagen" auf Seite 52: "Wir werden Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung so anpassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen."
Der am Mittwoch abgesegnete RefE, den Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) erst am Dienstag vorgestellt hatte, sieht eine Änderung von § 6 Straßenverkehrsgesetz (StVG) vor, welcher das BMDV dazu ermächtigt, "zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen" Rechtsverordnungen zu erlassen oder zu ändern. Hierauf basiert insbesondere auch die Straßenverkehrsordnung (StVO).
Die Norm enthält nun einen neuen Absatz 4a, der Rechtsverordnungen auch "zur Verbesserung des Schutzes der Umwelt, darunter des Klimaschutzes, zum Schutz der Gesundheit oder zur Unterstützung der städtebaulichen Entwicklung" erlaubt. Die Reform soll laut Wissing dafür sorgen, dass Tempo-30-Regelungen an Spielplätzen oder hochfrequentierten Schulwegen sowie Fußgängerüberwege mit weniger Begründungsaufwand angeordnet werden können. Zu Streit um Zebrastreifen vor Schulen soll es also künftig nicht mehr kommen.
Ein flächendeckendes innerstädtisches Tempolimit von 30 Stundenkilometern wird es nach den Plänen des BMDV allerdings nicht geben: "Die Regelgeschwindigkeit bleibt 50, und eine Ausnahme muss begründet werden. Und die muss auch auf der Grundlage eines Gesetzes begründbar sein. Das verlangt der Verfassungsstaat, und dabei bleibt es", sagte Wissing am Mittwoch im Deutschlandfunk.
Ein erster Schritt "in die richtige Richtung"
Die Reform könne die Grundlage für einen "Modernisierungsschub" im städtischen Verkehr bilden, sagte der Direktor der Denkfabrik Agora Verkehrswende, Christian Hochfeld. Er sprach von einem "Paradigmenwechsel". Der öffentliche Raum in den Städten könne fairer zwischen den einzelnen Verkehrsträgern verteilt werden. Viele Städte warteten auf eine Modernisierung, zum Beispiel für einfachere Ausweisungen von Tempo-30-Zonen und für die Einrichtung von Busspuren und Radwegen.
Etwas zurückhaltender äußerte sich am Dienstag Städtetag-Geschäftsführer Dedy: Der Gesetzentwurf lasse erste Anzeichen für ein Umdenken erkennen und gehe für die Städte in die richtige Richtung.
Entscheidend ist eine Änderung der StVO
Doch es gibt auch Kritik: Gegenüber der taz äußert sich insbesondere die Deutsche Umwelthilfe (DUH) enttäuscht; sie beurteilt den Entwurf als "Versuch der Festschreibung des Primats einer autofreundlichen Stadt". Der Verein Changing Cities, der sich vor allem für die Belange des Radverkehrs einsetzt, sieht gegenüber der taz "viel Gutes, aber wenig Konkretes".
Klar ist: Ohne eine Änderung der StVO findet die Reform nur auf dem Papier statt. Die Neufassung der Verordnungsermächtigung des § 6 StVG ändert die behördlichen Befugnisse nicht unmittelbar ab. Sie ist vielmehr als Auftrag an das BMDV zu sehen, § 45 StVO so abzuändern, dass für neue Tempolimits, Zebrastreifen und Radwege keine durch Statistiken belegbaren Gefahren mehr erforderlich sind. Der "Erst-muss-es-krachen"-Ansatz ist also durch den Kabinettsbeschluss vom Mittwoch noch nicht aufgehoben.
Allerdings nahm das Kabinett neben den StVG-Änderungen auch einen BMDV-Entwurf zur Änderung der StVO in den Blick, der nun mit den Ländern abgestimmt werden soll. Solange die StVO nicht angepasst ist, kann der neue § 6 StVG allenfalls die Auslegung der StVO beeinflussen, sagt Juristin Charlotte Heppner, die an der Humboldt-Universität zum Thema Straßenverkehrsrecht und Mobilitätswende promoviert.
Rangverhältnis der Ziele unklar
Sie sieht die vorgeschlagene Reform aber noch grundlegender kritisch: "Die anvisierten Änderungen gehen nur teilweise über das hinaus, was § 6 StVG bisher erlaubt. In bestimmten Anwendungsfällen können Gesichtspunkte des Umweltschutzes oder der geordneten städtebaulichen Entwicklung schon jetzt berücksichtigt werden." Von einem Paradigmenwechsel wolle sie daher nicht sprechen, eher von "einer umwelt- und klimapolitischen Ergänzung des StVG".
Heppner weist zudem auf eine Unklarheit hin: Einerseits heißt es in der Begründung des RefE auf Seite 6, es sei "nicht erforderlich, dass die darauf basierende verkehrsregelnde Bestimmung auch Zwecke der Verbesserung der Verkehrssicherheit oder der Leichtigkeit des Verkehrs verfolgt. Diese Zwecke können vielmehr außer Acht bleiben". Andererseits statuiert der Entwurf des neuen § 6 Abs. 4a StVG, dass "neben der Verbesserung des Schutzes der Umwelt, des Schutzes der Gesundheit oder der Unterstützung der städtebaulichen Entwicklung" weiterhin auch "die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs [zu] berücksichtigen" sei.
"Diese Unklarheiten sollte der Gesetzgeber im weiteren Verfahren noch ausräumen. Will er eine echte Reform zugunsten des Klima- und Umweltschutzes, sollte er festlegen, dass diese Gesichtspunkte im Einzelfall auch die Gesichtspunkte der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs überwiegen können", so Heppner.
Neben dem Bundestag muss auch der Bundesrat den StVG-Änderungen zustimmen. Ziel ist nach Ministeriumsangaben eine Verabschiedung noch in diesem Jahr. Wann mit der ebenso notwendigen StVO-Änderung zu rechnen ist, ließ das BMDV auf LTO-Anfrage bis zur Veröffentlichung dieses Artikels unbeantwortet.
mit Material von der dpa
Kabinett beschließt StVG-Reform: . In: Legal Tribune Online, 21.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52051 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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