Urteile des LG Erfurt: Natur­rechte mit der Brech­stange

Gastbeitrag von Prof. Dr. Jan-Erik Schirmer und Luca Luipold und Jonathan Eziashi

04.11.2024

Sollte die Natur eigene Rechte haben? Jan-Erik Schirmer, Luca Luipold und Jonathan Eziashi kritisieren, man müsse die zivilrechtlichen Folgen unbedingt mitbedenken. Sonst ist für dessen Nachhaltigkeitstransformation wenig gewonnen.

Streitende Flüsse und klagende Wälder – was in anderen Rechtsordnungen längst Realität ist, hält nun auch hierzulande Einzug. In zwei Urteilen aus August und Oktober hat das Landgericht (LG) Erfurt die Natur zum Rechtssubjekt erklärt und ihr eigene Rechte zuerkannt. LTO berichtete jeweils. 

Spektakulär war nicht der Tenor der Erfurter Urteile: Die Kläger erhalten für ihre Diesel-Fahrzeuge mit unzulässiger Abschalteinrichtung vom Hersteller Schadensersatz in Höhe von zehn Prozent des Kaufpreises. Das bewegt sich genau in der Mitte der vom Bundesgerichtshof (BGH) vorgegebenen Größenordnung von fünf bis 15 Prozent. Die Überraschung findet sich in der Begründung der Schadenshöhe: "Von Amts wegen" müssten die Rechte der Natur "schutzverstärkend" in Streitigkeiten zwischen Privaten einbezogen werden. Dass die Natur eigene Rechte hat, folgerte das Gericht aus der EU-Grundrechtecharta. Die darin verbürgten Grundrechte seien "ihrem Wesen nach auf die Natur oder einzelne Ökosysteme – ökologische Personen – anwendbar".

Ob die Grundrechtecharta (oder sonstiges höherrangiges Recht) dem Zivilrecht tatsächlich vorgibt, die Natur als Rechtssubjekt anzuerkennen, ist ein Thema für sich. Aber selbst, wenn die Prämisse des LG Erfurt zutreffen sollte, drängen sich Anschlussfragen auf: Ist die zivilrechtliche Einbettung der Rechte der Natur stimmig und welche Folgewirkungen gehen damit einher? Leider bleibt das LG hier viele Antworten schuldig. 

Eigenrechte der Natur mit Schutzwirkung zugunsten Dritter

Aufhänger des LG Erfurt ist das nicht näher erläuterte Konzept der "Schutzverstärkung". Da Grundrechte als Teil der objektiven Werteordnung ins Privatrecht einstrahlen, müsse dies auch für Grundrechte der Natur gelten. 

Das geht deutlich zu schnell: Die Grundrechte, die bisher ins Privatrecht einstrahlen, sind die Grundrechte der Parteien selbst. Wer gegenüber einer Bank eine Bürgschaft für ein Familienmitglied eingeht, kann sich im Rechtsstreit auf Art. 6 Grundgesetz (GG) berufen; wer von einem Fußballverein ein Stadionverbot kassiert, kann dagegen Art. 3 GG ins Feld führen. Demgegenüber zieht das LG Erfurt Grundrechte eines Verfahrensunbeteiligten heran – eben die der Natur. So konstruiert es nicht nur ein neues Recht, sondern ein Recht mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Zugunsten des klagenden Käufers sind neben seinen eigenen Grundrechten auch die Eigenrechte der am Kaufvertrag unbeteiligten Natur zu berücksichtigen.

Die Konsequenzen dieser Sichtweise sind weitreichend: Würde eine "Schutzverstärkung" Schule machen, müssten Zivilgerichte in Zwei-Personen-Streitigkeiten fortan stets die Grundrechte von Verfahrensexternen mitberücksichtigen. 

Auch prozessual ändert sich einiges. Stellt man auf die Natur als Rechtssubjekt mit eigenen Rechten ab, tritt der Kläger gewissermaßen als ihr Prozessstandschafter auf. Und das nicht, weil die Natur es so möchte – sie wird zu ihrem Recht gezwungen: Weil laut dem LG Erfurt die Rechte der Natur von Amts wegen zu berücksichtigen sind, ist die Prozessstandschaft total. Das ist wenig stimmig. Wenn man die Natur aus ihrer passiven Rolle herauslösen und als eigenständiges Rechtssubjekt fassen will, müsste man sie eigentlich genauso behandeln wie alle anderen Prozessparteien auch. Dann wäre es nach der sogenannten Dispositionsmaxime ihr selbst überlassen, ob, wo und gegen wen sie klagt. Geht man so vor wie das LG Erfurt, degradiert man sie prozessual eben doch wieder zum bloßen Objekt.

Naturschutz im Zivilrecht geht einfacher

In der Gesamtschau fragt sich, warum das LG Erfurt überhaupt dieses Begründungsaufwand betreibt. Das Gericht sagt im Kern: Über die Rechte der Prozessparteien hinaus sind in einem Zivilrechtsstreit auch die Eigenrechte der Natur zu berücksichtigen – und dies muss von Amts wegen geschehen. Nur: Exakt diese Funktion leistet bereits die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG. Zivilgerichte müssen schon jetzt bei der Auslegung privatrechtlicher Vorschriften den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen berücksichtigen. Das passiert zwar noch immer zu wenig, aber die positiven Beispiele nehmen zu.

So hat etwa der BGH hohe Heilbehandlungskosten für einen verletzten Hund damit gerechtfertigt, dass bei der Auslegung der Schadensersatzregeln die in Art. 20a GG verbürgte "Anerkennung des Tierschutzes durch die Rechtsordnung" besonders berücksichtigt werden muss. Das kommt einer "Schutzverstärkung" sehr nahe – und ist dogmatisch deutlich weniger kontrovers. 

In Prozesskonstellationen wie vor dem LG Erfurt bringen Rechte der Natur also kaum Mehrwert. Anderswo im Zivilrecht könnte ein Subjektstatus aber sehr wohl einen Unterschied machen. Ob damit wirklich eine Verbesserung erzielt würde, ist aber nicht leicht zu beantworten. Denn die Verschiebungen im Zivilrechtssystem wären erheblich.

Wenn die Natur RWE verklagen könnte

Das zeigt sich etwa beim Erfordernis der Kausalität bei Abwehr- oder Schadensersatzansprüchen. Kausalität ist der Knackpunkt in privaten Klimaklagen wie der des peruanischen Bergführers Saul Lluyia gegen RWE vor dem Oberlandesgericht Hamm. Hier muss Lluyia eine mehrgliedrige Kausalkette nachweisen: In welchem Umfang haben RWEs Emissionen zum Klimawandel beigetragen, inwiefern schmilzt deshalb der Gletscher oberhalb seines Dorfes – und in welchem Maß ist all dies ursächlich für die konkrete Überflutungsgefahr seines Grundstücks? Obwohl derartige Nachweise naturwissenschaftlich zunehmend möglich sind, bleiben sie komplex und aufwendig. Wäre die Natur selbst Rechtssubjekt, würde sich die Kausalkette erheblich verkürzen. Die Natur könnte selbst vor Gericht ziehen und versuchen, den sie beeinträchtigenden Klimawandel abzuwehren oder Schadensersatz zu erstreiten – und müsste nur noch RWEs Verursachungsbeitrag zur Erderwärmung nachweisen.

Diese Erleichterung hätte jedoch einen Preis. Kausalität hat im Haftungsrecht eine wichtige erste Filterfunktion. Nur wenn der Kläger nachweisen kann, dass seine konkrete Schädigung auf das konkrete Verhalten des Schädigers zurückgeht, kommt überhaupt eine Haftung in Betracht. Dank dieser strengen Anforderungen sind viele Verhaltensweisen bislang haftungsfrei. Räumt man nun der Natur Eigenrechte ein und erleichtert so den Kausalitätsnachweis, bleibt von dieser Filterfunktion wenig übrig. Das mag man gut oder schlecht finden – solche Verschiebungen im Haftungssystem sollten aber eingehend diskutiert und abgewogen werden, bevor man mit Eigenrechten der Natur Fakten schafft. 

Die bewussten Lücken des Zivilrechts im Umweltschutz

Ein zweites Beispiel sind Verschiebungen bei der Verhaltenssteuerung. Bislang wird die Natur zivilrechtlich nur reflexartig geschützt ist – nämlich, wenn Umweltverschmutzungen zugleich das Eigentum oder sonstige absolute Rechte von Menschen oder Unternehmen verletzen. In allen anderen Fällen bleiben Umweltverschmutzungen haftungsfrei. Das führt zu Fehlanreizen, weil Umweltverschmutzungen häufig nichts kosten. Das wäre bei Eigenrechten der Natur radikal anders. Hätte die Natur zivilrechtlich geschützte Rechte, müssten Umweltverschmutzer mögliche Kompensationszahlungen an sie einpreisen.  Führen etwa Industrieemissionen zu einer Versauerung der Ozeane, könnte die Natur (vertreten durch NGOs oder andere Treuhänder) diese Beeinträchtigung abwehren oder Schadensersatz verlangen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Endlich wären Umweltverschmutzungen zivilrechtlich lückenlos erfasst, die Anreize zu umweltschonendem Verhalten erhöht.

Freilich ist Mensch andauernd von Natur umgeben und wirkt ständig auf sie ein. Sollen menschliche Einwirkungen möglich bleiben, bräuchte es Grenzen, zulässige von unzulässigen Natureinwirkungen zu unterscheiden. Einen Anhaltspunkt könnte § 906 BGB bieten, der regelt, wann Nachbarn Abgase, Rauch und ähnliche unwägbare Einwirkungen zu dulden haben – quasi als Schablone für unser Nachbarschaftsverhältnis mit der Natur. Just diese Regelung macht aber einen wichtigen Einwand deutlich: Duldungspflichten bedeuten, dass ein gewisses Maß an Immissionen entschädigungslos hingenommen werden muss. Viele umweltverschmutzenden Einwirkungen sollen kostenlos möglich sein. Das hat historische Gründe: Der Zivilrechtsgesetzgeber hat bewusst Lücken im Umweltschutz gelassen, um gesamtgesellschaftlich nützliche (Industrie-)Aktivität zu ermöglichen. Auch das mag man im Angesicht der Klimakrise kritisieren. Aber man sollte diese Wertungsentscheidung reflektieren, wenn man über Eigenrechte der Natur nachdenkt. 

Fazit: Zu viel, zu schnell

Judikative Innovationen sind wichtig. Das gilt auch und gerade für Zivilgerichte, die insbesondere in Krisenzeiten häufig als gesamtgesellschaftlicher Antreiber fungieren. Es waren Zivilgerichte, die auf die Hyperinflation mit der Störung der Geschäftsgrundlage reagierten und während der Pandemie Kostenrisken aufteilten. Auch ist per se nichts dagegen einzuwenden, dass Zivilgerichte neue Rechtssubjekte anerkennen. Das ist durchaus Teil ihres Jobs, wie etwa die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der (Außen-)Gesellschaft bürgerlichen Rechts belegt. 

Mit großer Macht kommt aber auch große Verantwortung. Zwar ist es richtig, dass Gerichte im Angesicht der beispiellosen Umwelt- und Klimakrise nicht einfach achselzuckend weiterzumachen. Auch das Zivilrecht muss sich für Nachhaltigkeitsideen öffnen und nach innovativen Lösungen suchen – und mitunter können Eigenrechte der Natur Teil davon sein. Aber gerade, weil neue Lösungen so wichtig sind, müssen sie sorgfältig durchdacht und stichhaltig begründet sein. Das gilt umso mehr, wenn damit weitreichende Verschiebungen im Zivilrechtssystem verbunden sind. Andernfalls läuft selbst die beste Idee Gefahr, vorschnell als Hirngespinst abgetan zu werden. Damit ist für die dringende zivilrechtliche Nachhaltigkeitstransformation wenig gewonnen, im Gegenteil. Wem Nachhaltigkeit am Herzen liegt, sollte sich dieser Verantwortung bewusst sein – gleich ob Wissenschaftlerin oder Landrichter. 

Prof. Dr. Jan-Erik Schirmer ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Compliance und Nachhaltigkeit an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Luca Luipold und Jonathan Eziashi sind Akademische Mitarbeitende am Lehrstuhl.

Zitiervorschlag

Urteile des LG Erfurt: . In: Legal Tribune Online, 04.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55778 (abgerufen am: 04.11.2024 )

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