Sollte man kennen: 5 wich­tige BVerfG-Ent­schei­dungen 2020

von Dr. Markus Sehl

22.12.2020

2/5: EZB und EuGH über die Karlsruher Schmerzgrenze hinaus 

Spektakulärer hätte der Abschied von Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle kaum ausfallen können. Erstmals in seiner Geschichte stellte das BVerfG im Mai fest, dass Handlungen und Entscheidungen von EU-Organen offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt seien und deshalb in Deutschland keine Wirkung entfalten könnten (Urt. v. 05.05.2020, Az. 2 BvR 859/15 u.a.). Es war die letzte BVerfG-Entscheidung, die Voßkuhle als Präsident des Gerichts verkündete. Und die hatte es in sich.

Für eine solche sogenannte ultra-vires-Feststellung reicht nicht jede Kompetenzüberschreitung, sondern das Handeln der Unionsgewalt muss aus Sicht der BVerfG-Richterinnen und Richter offensichtlich kompetenzwidrig sein. Ein Zeugnis, das der Zweite Senat der Arbeit der Europäischen Zentralbank (EZB) ausstellte und der Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) noch gleich dazu.

Auf eine Kurzformel gebracht sehen die Richterinnen und Richter des BVerfG ein unheilvolles Zusammenspiel zwischen einem EU-Organ mit weitreichenden Handlungsspielräumen (die EZB) und einem eigentlich zur Kontrolle berufenen Gericht (der EuGH), dessen Prüfung aber großzügig ausfällt. Dadurch drohe dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Gefahr. Und es "eröffnet den Weg zu einer kontinuierlichen Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten", wie es in dem Urteil heißt.

Die Botschaft war deutlich: Wenn der EuGH seine Prüfung aus Sicht des BVerfG nicht ausreichend durchführt, dann bleibt am Ende nur noch das BVerfG.

Zwar blieben die praktischen Auswirkungen überschaubar, die EZB durfte ihre Abwägungen nachholen. Aber die Entscheidung sorgte für Verunsicherung, sie schickte regelrecht Schockwellen über das politische Europa. Zwischenzeitlich drohte Deutschland ein EU-Vertragsverletzungsverfahren. Das BVerfG bemühte sich nach der Entscheidung öffentlich um Deeskalation. Ob der Kläger und langjährige CSU-Politiker Peter Gauweiler das Verfahren möglicherweise noch weiter treiben kann, ist auch zum Ende des Jahres noch offen.

Zitiervorschlag

Sollte man kennen: . In: Legal Tribune Online, 22.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43814 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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