Sollte man kennen: 5 wich­tige BVerfG-Ent­schei­dungen 2020

von Dr. Markus Sehl

22.12.2020

1/5: Selbstbestimmung bis in den Tod

Im Februar erklärte das BVerfG das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in § 217 Strafgesetzbuch (StGB) nicht nur für verfassungswidrig, sondern auch gleich für nichtig. Die Norm war damit außer Kraft gesetzt (BVerfG, Urt. v. 26.02.2020, Az. 2 BvR 2347/15; 2 BvR 651/16; 2 BvR 1261/16).

Man habe es sich nicht leicht gemacht, sagte der damals noch amtierende Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung. Schon als der Strafrechtsparagraph im Jahr 2015 beschlossen worden war, hatte es heftige Debatten im Bundestag gegeben. Die Norm bestraft die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung. Neben professionellen Sterbehilfeorganisationen, die ihre Arbeit in Deutschland seit dem Inkrafttreten der Norm eingestellt haben, hatten auch Ärztinnen und Ärzte und schwerstkranke Menschen Verfassungsbeschwerden erhoben. Die Ärzte fürchten, sich nach § 217 StGB strafbar zu machen, wenn sie Patienten beim Freitod helfen.

Der Zweite Senat des BVerfG hat mit seinem Urteil nun für Hoffnung auf Rechtssicherheit bei Sterbewilligen, Ärztinnen und Ärzten sowie Sterbehilfevereinen gesorgt. Denn das Urteil trägt sehr grundsätzliche Züge und stellt die Autonomie des Menschen in den Mittelpunkt, abgeleitet aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs 1 GG. "Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde." Und die Entscheidung "des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren." Die Strafrechtsnorm des § 217 StGB verenge dieses Recht so sehr, dass dem Einzelnen praktisch keine Möglichkeit mehr bleibe, diese Freiheit wahrzunehmen. 

So progressiv das Urteil des BVerfG auch ausfällt, es wird wie immer auf die Umsetzung ankommen. Das BVerfG betont, dass der Gesetzgeber Suizidhilfe durchaus regulieren dürfe, aber eben nur im Rahmen der von ihm ausbuchstabierten Autonomie. Dem Gesetzgeber stehe "in Bezug auf das Phänomen organisierter Suizidhilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen". Auch die denkbaren Instrumente sind nicht neu: Aufklärungs- und Wartepflichten, um die Ernsthaftigkeit der Entscheidung des Sterbewilligen abzusichern, oder Erlaubnisvorbehalte für Suizidhilfeangebote. Passiert ist noch nichts. Und es bleibt nur Unsicherheit. Vor allem für die, die keine Zeit dafür haben.

Zitiervorschlag

Sollte man kennen: . In: Legal Tribune Online, 22.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43814 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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