Deutscher Verkehrsgerichtstag: "Vor­sich­tige Öff­nung für Ange­hö­rigen-Sch­mer­zens­geld"

LTO-Redaktion

30.01.2012

Zum 50. Mal haben namhafte Experten in Goslar über aktuelle Entwicklungen des Verkehrsrechts beraten. Auf der Agenda stand unter anderem der Umgang mit krankheitsbedingten Gefahren und die Einführung eines "Trauergeldes" für Angehörige von Unfallopfern. Über die dabei an den Gesetzgeber formulierten Forderungen spricht Verkehrsgerichtstags-Präsident Kay Nehm im Interview.

LTO:  Herr Nehm, der Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar konnte 2012 auf eine 50-jährige Erfolgsgeschichte zurückblicken. Viele wichtige verkehrspolitische Impulse sind seit 1963 von der Veranstaltung ausgegangen, unter anderem die Herabsetzung der Promillegrenzen. Jüngst hat nun der Verkehrssicherheitsrat gefordert, Alkohol am Steuer ganz zu verbieten. Inwieweit war dieser Dauerbrenner auch Thema des diesjährigen Verkehrsgerichtstages?

Kay Nehm: Das Thema Alkohol und Drogen gehörte dieses Jahr nicht zum Arbeitsprogramm. Selbstverständlich wurde es bisweilen intern diskutiert. Stattdessen haben sich die Rechts- und Verkehrsmediziner diesmal mit den Risiken befasst, die von erkrankten Verkehrsteilnehmern ausgehen.

LTO: Welches sind denn die häufigsten Gebrechen, die zu Unfällen führen?

Nehm: Leider gibt die Unfallstatistik auf diese Frage keine Antwort. Die erörterten Zahlen beruhen auf Erkenntnissen der Mediziner. Risikoreiche Erkrankungen sind insbesondere Herzinfarkt, Schlaganfall, Epilepsie und Diabetes. Hier kann das Folgerisiko im Allgemeinen durch Behandlung verringert werden.

Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie hat sich zur Risikobewertung einer plausiblen Formel bedient: Sie berücksichtigt unter anderem die Zeit am Steuer, die Art des Fahrzeuges und die Wahrscheinlichkeit eines plötzlichen Kontrollverlustes. Entsprechendes fordert der Verkehrsgerichtstag auch für andere Krankheiten. Problematisch wird es bei altersbedingten Ausfallerscheinungen. Das gilt vor allem bei uneinsichtigen oder unverständigen Patienten.

LTO: Hier würde ich gerne einhaken: Es gibt ja speziell bei Senioren immer wieder Forderungen nach verpflichtenden Fahrsicherheitstrainings, mitunter wird sogar über Fahrverbote nachgedacht. Besteht aus Ihrer Sicht insoweit tatsächlich Handlungsbedarf, oder sind die Experten hier möglicherweise zu einer anderen Empfehlung gekommen?

Nehm: Ein Fahrsicherheitstraining ist generell für alle Kraftfahrer empfehlenswert. Die Frage ist, wer den fahruntüchtigen uneinsichtigen Kraftfahrer ausbremst. Der Verkehrsgerichtstag hat hier seine frühere Auffassung bekräftigt, dass der behandelnde Arzt in Extremfällen nicht an die ärztliche Schweigepflicht gebunden ist. Nun wurde für Fälle akuter Gefährdung das Recht des Arztes befürwortet, den krankheitsbedingt nicht fahrtüchtigen Patienten der Polizei zu melden.

Höhe von Entschädigungsanspruch muss Sache der Gerichte bleiben

LTO: Ein weiteres Thema beim Verkehrsgerichtstag war die Frage, ob nahe Angehörige von getöteten Unfallopfern einen eigenen Anspruch auf Schmerzensgeld haben sollen.  Im Gegensatz zu Deutschland können diese Personen in anderen europäischen Ländern das so genannte Trauergeld bereits gerichtlich geltend machen. Warum ist das hierzulande nach gegenwärtiger Rechtslage so schwierig?

Nehm: Im Unterschied zu manchen anderen Ländern ist bei uns der Kreis der Berechtigten in Anlehnung an unser Familienrecht eng begrenzt. Trotz Ausweitung der Schadensersatzleistungen auf weitere Angehörige bleiben übrigens die Gesamtaufwendungen in annähernd vergleichbarer Höhe. Das ist ein Hinweis auf die unterschiedlichen Parameter in Europa. Anderenorts genießt der Personenschaden Vorrang vor der Summe der häufig geringfügigen Schadenspositionen beim Sachschaden.

LTO: Zu welchen Empfehlungen ist der Verkehrsgerichtstag hier nun gekommen?

Nehm: Zum Thema Angehörigen-Schmerzengeld hat sich der Verkehrsgerichtstag für eine vorsichtige Öffnung des Deutschen Rechts ausgesprochen. Bei Tötung eines nahen Angehörigen zum Beispiel sollte ein gesetzlicher Entschädigungsanspruch für Ehe- und Lebenspartner sowie für Eltern und Kinder geschaffen werden, dessen Bemessung allerdings den Gerichten überlassen bleiben müsste.

Wer beim Pedelec in die Pedale tritt, soll als Fahrradfahrer gelten

LTO: Kommen wir noch zu neuen Fortbewegungsmitteln und technische Entwicklungen, die natürlich auch vor Verkehrsjuristen nicht haltmachen. So ging es in Goslar auch um den rechtlichen Umgang mit als Pedelec bezeichneten Elektrofahrrädern und so genannte Bierbikes.

Gerade die Bierbikes sind ja in jüngerer Vergangenheit vermehrt in die Schlagzeilen geraten. So hat das OVG Münster entschieden, dass man für derartige Fahrzeuge eine Sondernutzungserlaubnis braucht. Inwieweit haben die Experten bei diesen unterschiedlichen Fahrzeugen differenziert und zu welchen Ergebnissen sind sie dabei gekommen?

Nehm: Die Bierbikes dienen nicht der Fortbewegung, sondern der Belustigung. Sie gehören nicht auf öffentliche Strassen.

Bei den Pedelecs lautet die entscheidende Frage: Fahrrad oder Kraftfahrzeug? Der Verkehrsgerichtstag hat sich hier für eine Differenzierung ausgesprochen: Pedelecs, deren Motor nur als Schiebehilfe beim Anfahren dient oder nur dann eingreift, wenn der Fahrer in die Pedale tritt, sollten Fahrrädern gleichgestellt werden. Allerdings werden Helm und Haftpflichversicherung empfohlen. Pedelecs mit einer motorunterstützten Geschwindigkeit bis zu 45 km/h sollten als Kleinkrafträder mit entsprechenden Konsequenzen eingestuft werden.

LTO: Herrn Nehm, wir danken Ihnen für dieses Interview.

Kay Nehm, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof und Generalbundesanwalt a.D. ist Präsident des Deutschen Verkehrsgerichtstages e.V.

Die Fragen stellte Steffen Heidt.

 

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Zitiervorschlag

Deutscher Verkehrsgerichtstag: . In: Legal Tribune Online, 30.01.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5441 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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