Behinderung: Stot­tern für Juristen (m/w)

von Martin Rath

01.11.2017

Im Kino spielen Stotterer neuerdings heroische Rollen, während sie früher für Komik sorgten. Am kleinen, aber seriösen Welttheater, also bei Gericht, wird Stottern auf vielfältige Weise gewürdigt - ein Feiertagsfeuilleton von Martin Rath.

Fraglich ist, ob sich der große britische Komiker John Cleese (*1939) heute so viel Ehrlichkeit noch erlauben könnte. Zur Vorgeschichte seiner erfolgreichen Film-Komödie "Ein Fisch namens Wanda" (A Fish Called Wanda, 1988) erklärte Cleese: "Tatsächlich war Charlie und mir als erstes eine Szene eingefallen, in der ein Mann mit einer äußerst wichtigen Information diese nicht weitergeben kann, weil vor Aufregung sein Stottern völlig überhand nimmt."

Im Film resultiert dies in einer wenig erbaulichen Szene, die auch deshalb so quälend ausfällt, weil sie ihr Darsteller, Michael Palin (*1943), als Sohn eines Stotterers aus eigener Anschauung spielen konnte. Die Rolle trug Palin neben einem Preis der British Academy of Film and Television Arts auch Kritik seitens Stotterer-Organisationen ein, ungeachtet des Umstands, dass sich der von Palin gespielte Charakter im Film seines übelsten Quälgeistes am Ende entledigen kann.

Verletzend, kathartisch, anrührend, verkitscht?

Deutlich besser gelitten war selbstredend "The King's Speech" aus dem Jahr 2010: Dem Bruder des britischen Thronfolgers und kurzzeitigen Königs Eduard VIII. (1894–1972, im Amt: 1936) wird vom autodidaktisch gebildeten, und daher unter Stand arbeitenden Sprachtherapeuten Lionel Logue (1880–1953) aus seiner Not geholfen, die er als Stotterer und neuer König zu gegenwärtigen hat.

Von welcher Darstellung sich der Zuschauer mehr angesprochen fühlt, bleibt einstweilen – niemand weiß, wie eng das moralische Urteil noch auf das ästhetische Empfinden übergreifen wird – jedem selbst überlassen.

Einige der nachfolgenden juristischen Fall-Geschichten von Stotterern und dem Stottern mögen mehr ans verletzende, aber kathartische Modell, andere mehr an die zwar anrührende, aber historisch ein wenig verlogene Kino-Erzählung erinnern. Schauen wir uns also auf den Brettern um, die wirklich die Welt bedeuten, also in Deutschland, bei Gericht.

Bundesverwaltungsgericht ohne Geduld

Fast schon Stoff für ein Kammerspiel, wenn nicht für einen bösen kleinen Film bietet die folgende, im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 3. November 1967 – übermorgen vor 50 Jahren – angelegte Geschichte (Az. VIII C 24.67).

Der Kläger hatte als Angehöriger eines der ersten Jahrgänge, die zur Bundeswehr eingezogen wurden, erst nach seiner Musterung den Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt.

Das Verwaltungsgericht (VG) Hannover wies dies u.a. mit der unfreundlichen Erklärung ab, er sei "ein weichlicher, für sein Alter erstaunlich wenig gefestigter, beeinflußbarer Mensch, der sich in seinen Angaben mehrfach widersprochen habe; noch bei der Musterung habe er seine Verwendung bei der Sanitätstruppe gewünscht und den Kriegsdienst nicht verweigert". Das Gericht mutmaßte, der Mann sei erst durch Einflüsterungen einer Kriegsdienstverweigerer-Organisation ins Wanken geraten.

Das BVerwG hob dieses Urteil der Vorinstanz 1962 auf, weil zu hohe Anforderungen an die Darlegung der Gründe für die Kriegsdienstverweigerung gelegt worden seien.

Zahlreiche rechtliche Mängel

In der neuen Verhandlung vor dem VG begegnete der Kläger im zweiten Durchgang dem Vorwurf, den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung so spät gestellt zu haben und "weichlich" zu sein u.a. mit Zeugnissen dazu, dass er als Kind im Zweiten Weltkrieg "Tieffliegerangriffe erlebt und einen Nervenschock erlitten" habe, "als ein benachbartes Haus von einem Bombenvolltreffer zerstört" wurde, so dass "er noch lange gestottert habe". Ärzte bestätigten ihm, dass sein Stottern und seine Zurückhaltung auf diese traumatischen Kriegserlebnisse zurückzuführen sei. Das VG wies die Klage auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen erneut ab.

Keine Geduld zeigten die Bundesrichter nun in ihrem Revisionsurteil vom 3. November 1967: Trotz der "zahlreichen rechtlichen Mängel" verwiesen sie die Sache nicht zurück, sondern entschieden selbst, dass der inzwischen 30-jährige und verheiratete Mann seine Gewissensgründe hinreichend dargetan habe –  die nervliche Belastung, die er als Kind erlitten hatte, habe das VG nicht einfach unberücksichtigt lassen dürfen.

Nicht jedes Stottern führte zur Rechtswohltat

Bemerkenswert ist, dass zu den Bundesrichtern, die im Fall des niedersächsischen Kriegsdienstverweigerers entschieden, auch Dr. Hans-Walter Zinser (1908–1972) zählte, ehemaliges SA- und NSDAP-Mitglied, der im Zweiten Weltkrieg in der deutschen Verwaltung des Generalgouvernements tätig war, und zwar in einem geografischen Zentrum des Massenmords an den Juden in Polen.

Das führt zu einem untergründigen Vergleich: Einen Anspruch auf Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz verneinte der Bundesgerichtshof (BGH) mit Beschluss vom 27. März 1963 im Fall eines Mannes, der angegeben hatte "er leide unter einer Neurose, die durch Stottern, Schlaflosigkeit und Depressionen gekennzeichnet werde" (Az. IV ZB 461/62).

Sein u.a. durch Stottern gekennzeichnetes Leiden habe seine Ursache in folgendem Ereignis gehabt: Im Oktober 1939 "sei er von deutschen Soldaten mit dem Gewehrkolben über den Kopf geschlagen und dabei als 'Judenjunge' beschimpft worden, weil er polnischen Gefangenen Trinkwasser gereicht habe".

Land- und Oberlandesgericht waren der Auffassung, dass "nach dem heutigen Stande der medizinischen Wissenschaft zur Neurosefrage eine einmalige, wenn auch schwere Mißhandlung nicht geeignet sei, neurotische Erscheinungen über einen so langen Zeitraum fortbesteht [sic!] zu lassen". Der BGH billigte, dass dieser Befund von den Richtern ohne ärztlichen Sachverstand anhand des "medizinischen Fachschrifttums" getroffen wurde.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Behinderung: . In: Legal Tribune Online, 01.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25319 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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