2/2: Stottern als Indikator für Zivilisationsfortschritt
Nach Angaben der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe leiden rund 800.000 Menschen in Deutschland, ein Prozent der Bevölkerung, unter Stottern. Die Wertung des Stotterns, auch als Indikator für psychische Probleme, hat sich im Lauf der Jahrzehnte erkennbar gewandelt.
So sah der BGH Anfang der 1960er-Jahre in einer Strafsache keinen Anlass, das Urteil der Vorinstanz kritisch zu würdigen. Obwohl der Angeklagte ein ganzes Bündel an Störungen aufwies – auf Stottern beruhende Hemmungen, wiederholte Suizidversuche, Unzucht mit Tieren –, wollte kein Richter darin eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit sehen (BGH, Urt. v. 14.06.1963, Az. 4 StR 190/63).
Zwanzig Jahre später monierte der BGH, dass es die Strafkammer unterlassen hatte, einen medizinischen Sachverständigen zu der Beweisbehauptung zu hören, dass der Angeklagte wegen eines "schweren Sprachfehlers" in Stresssituationen wie der vorgeworfenen Tat dazu neige, "sehr stark zu stottern". Hier habe näher Beweis erhoben werden müssen, ob das Stottern nicht Anzeichen für eine tiefgreifende psychische Belastungssituation gewesen sei (BGH, Beschl. v. 15.06.1984, Az. 5 StR 359/84).
Stottern und Berufswahl
Die rechtliche Würdigung von Nachteilen, die stotternde Menschen im Berufsleben haben können, ist ein weites Feld.
Wenig geholfen war einem jungen Menschen, dem sein Facharzt forsch attestiert hatte, ohne sein Stottern hätte er "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit um 1,0" besser im Abitur abgeschnitten. Das BVerwG mochte dieser ärztlichen 'Differenzialprognose' zur Abiturprüfung mit und ohne Stottern in einem Verfahren um die Zulassung des Klägers zum Studiengang Tiermedizin nicht folgen (Beschl. v. 12.04.1983, Az. 7 B 27.83).
Knapp 30 Jahre später befand das Landesarbeitsgericht Köln, dass ein unter Stottern leidender Bewerber die Ablehnungs-Phrase von der "Kommunikationsstärke" arbeitsgerichtlich überprüfen lassen könne (Beschl. v. 26.01.2012, Az. 9 Ta 272/11).
Fast ein wenig anrührend äußerte sich das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg über einen Volljuristen. Der hatte sich zunächst erfolglos um die Übernahme von Kosten für Fortbildungsmaßnahmen im Kontext mit beruflicher Rehabilitation bemüht. Er war aber mit dem Argument abgewiesen worden, er sei als freiberuflicher Rechtsanwalt – noch – nicht arbeitslos. Die Potsdamer Richter halfen dem ab:
"Aufgrund der sprachlich äußerst schwierigen und teilweise unverständlichen Artikulation des Klägers, die es ihm in der mündlichen Verhandlung nicht erlaubte, einen zusammenhängenden Satz zu sprechen, hält es der Senat für überzeugend und nachvollziehbar, dass der Kläger […] bestrebt ist, eine Beschäftigung als angestellter Jurist in einem 'geschützteren' Bereich, z.B. in einem Unternehmen oder Behörde, mit geringerer sprachlicher Kommunikation zu suchen" (Urt. v. 09.11.2016, Az. L 18 AL 19/16).
Spotten über Stottern: Hier darf man es
Zugleich komisch und bedrückend spiegeln sich die erotischen Verklemmungen in der bayerischen Provinz der 1950er-Jahre in einem Urteil des Bundesdisziplinarhofs (Urt. v. 21.03.1961, Az. Az. II D 92/60).
Einem Postbeamten zu Bad Tölz, dann Kempten (Allgäu) war vorgeworfen worden, eine unsittliche Liebesbeziehung zu einer ihm untergebenen Beamtin gepflegt zu haben – nach allen richterlichen Feststellungen eine furchtbar unter ihrem Gatten leidende Frau.
Bei der disziplinarrechtlichen Inquisition darüber, ob der selbst verheiratete Beamte hier unschicklich mit der Beamtin befreundet gewesen sei, bezeugte ein Postoberinspektor, die beiden Mitbeamten seien dabei ertappt worden, die Köpfe zusammengesteckt zu haben – und der Beschuldigte habe "wenn er dann einige Worte sagte" gestottert.
Selbst wenn Stottern an sich kein Anlass für Scherze ist, über diese verklemmten Verhältnisse in der Beamtenpost alter Zeiten darf wohl traurig gelächelt werden – und diese Romante harrt noch ihres Films.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Behinderung: . In: Legal Tribune Online, 01.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25319 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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