Auch wenn sie sich um Stilistik und Textrhetorik bemüht, ist die rechtswissenschaftliche Kommentar- und Lehrbuchliteratur gefährdet, den Leser zu langweilen. Martin Rath stellt sieben Doktorarbeiten vor, die dagegen angenehm überraschen.
Juristische Literatur kommt selten einem schriftstellerischen Lesevergnügen gleich. Meist ist das auch nicht anders möglich, die fachliche Neugier an sachlicher Information trägt das Genre, Zitierkartelle und ein positivistischer Blick auf die Rechtsprechung tun ihr Übriges.
Juristisches Schrifttum muss den Leser allzu oft nicht aktiv für sich gewinnen. Ein Bereich, in dem eine generelle Ausnahme von dieser Beobachtung gilt, sind die zahllosen Doktorarbeiten juristischer Provenienz. Zwar überwiegt auch hier gediegenes, dogmatisches Handwerk. Kurioses und Bedenkliches findet sich unter den hunderten juristischer Dissertationen, die in jedem Jahr jungen Menschen zu den begehrten zwei Buchstaben mit Punkt verhelfen, gleichwohl mit einiger Wahrscheinlichkeit.
Der neue Blick in die juristische "Konfirmation des Geistes" führt uns unter anderem zu folgenden Fragen:
Ist der moralische und gastronomische Niedergang der Menschheit schon so weit gediehen, dass es sich lohnt, eine "Menschenfleischsuchmaschine" online zu stellen?
Sind muslimische geprägte Rechtsordnungen keiner liberaleren Haltung in Sachen Meinungsfreiheit zugänglich oder brauchen sie vielleicht einfach nur etwas Nachhilfe?
Ist es nicht großartig, in juristischen Bahnen über so schlichte Dinge wie Wasser oder Geld nachzudenken?
Auf den nächsten Seiten gibt es Empfehlungen zu den Antworten dazu.
Sehr viele Fälle von Kannibalismus soll es in der Volksrepublik China zuletzt während des sogenannten "Großen Sprungs nach vorn" gegeben haben, einer wirtschaftspolitischen Kampagne, mit der die Kommunistische Partei des Landes seit 1958 unter anderem die Landwirtschaft revolutionieren wollte und millionenfachen Hungerstod verursachte.
"Die rechtliche Regulierung der Menschenfleischsuche im Internet" – Der Titel der 2015 in Göttingen vorgelegten Dissertationsschrift von Xiaogpeng Zhao lässt daher vielleicht vermuten, dass sich das tief traumatisierende und von Staats wegen verschwiegene Ereignis der jüngeren chinesischen Vergangenheit seinen Weg in einen psychiatriewürdigen gastronomischen Wahn gebahnt hat – wo würde man entsprechende Perversionen anders finden als im Internet?
Zhao lässt seine Leser tatsächlich ein wenig im Unklaren, was er überhaupt thematisiert, wenn er beispielsweise erklärt, dass Google und Bing zwar die üblichen Suchmaschinen im Internet seien, es aber auch eine "Menschenfleischsuchmaschine" gebe.
Des Rätsels Lösung: "Menschenfleischsuche" ist die direkte Übersetzung aus dem Chinesischen für ein Online-Phänomen, das wir hierzulande als Persönlichkeitsrechtsverletzung, prägnanter: als Online-Pranger bezeichnen – und die Dissertation mit dem nicht ganz geschmackssicheren Titel stellt sich als recht harmlose rechtsvergleichende Arbeit zum Anprangern von potenziellen Übeltätern im Internet heraus.
Kommunistische Funktionäre mit weitgehender Immunität vor der Strafjustiz, mangelhafter Rechtsschutz für Arbeitnehmer und Verbraucher, eine effektiv gelenkte Presse, die von Staats wegen betriebene Zurschaustellung von Verurteilten vor ihrer Hinrichtung – für aggressive Online-Kommunikation dürfte es in der Volksrepublik China zahlreiche Begründungsansätze geben.
Um sich der bösen rechtssoziologischen Seite zu nähern, ist diese Doktorarbeit aber leider zu harmlos.
Seit der damalige Führer der iranischen Theokratie, Ruhollah Chomeini (1902–1989), im Jahr 1989 ein bis heute immer wieder erneuertes Mordkomplott gegen den britischen Schriftsteller Salman Rushdie ausheckte, steht die sogenannte Verletzung ebenfalls sogenannter heiliger Gefühle durch Publikationen immer wieder im Licht der Weltöffentlichkeit.
Rushdie hatte in seinem Roman "Die satanischen Verse" die heidnischen Wurzeln des Islam thematisiert, eine Ketzerei am Dogma muslimischer Religionsgelehrter. Über die hohen Kosten für den Polizeischutz Rushdies machte sich seinerzeit Prince Charles Sorgen, der so viel Aufwand für einen nichtsnutzigen Schriftsteller nicht einsehen mochte.
Zu erwähnen ist das, weil es illustriert, wie sehr die Leute beim Thema "Meinungsfreiheit und Religion im Spannungsverhältnis" den Verstand verlieren können, sogar jenes Quäntchen, über das sie in der Position als britischer Thronfolger überhaupt verfügen müssen.
Sachlichkeit tut hier gut. Philipp Maximilian Schmidt vergleicht in seiner Hamburger Doktorarbeit die verfassungs- und einfach-rechtlichen Bedingungen, unter denen vor allem potentiell blasphemische, religionskritische Äußerungen in Deutschland, Malaysia und den USA stehen.
Dass die USA die Meinungsfreiheit gegenüber allen religiösen Sonderrechtsvorstellungen betonen, Deutschland mit dem halbherzigen § 166 Strafgesetzbuch, Beschimpfung von Religionsbekenntnissen unter Gefährdung des öffentlichen Friedens, im Mittelfeld spielt, dürfte bekannt sein.
Malaysia dient als Beispiel für eine Rechtsordnung, in der Wertungen des islamischen Rechts teils unmittelbar, teils staatlich vermittelt Geltung beanspruchen. An der Entdeckung von Verhältnismäßigkeitsprinzip und praktischer Konkordanz der Grundrechte wird dort leider noch gearbeitet. Ist das aber nicht schon mehr, als viele hierzulande in ihrer Abneigung gegenüber orientalischen Rechtsordnungen erwarten würden?
Was macht den deutschen Staat aus? Tägliche Vewaltungsakte, Millionen mehr oder minder korrekt ausgezahlter Renten- und Sozialhilfeansprüche, die etablierten Parteien limitieren ihr innerstaatliches Machtspiel durch ein recht zähes Geflecht gemeinsamer Werte und ausgleichsfähiger Interessen, ein kaum minder zähes Geflecht bindet ihn europa- und völkerrechtlich.
Als im Sommer 2015 die Bundesanwaltschaft gegen die Redakteure des Online-Magazins "Netzpolitik" wegen des Verdachts des "publizistischen Landesverrats" zu ermitteln begann, wirkte das mit Blick auf den deutschen Staat in seiner ganzen Pracht und Ordnungspotenz ein bisschen surreal.
Mit seiner Regensburger Dissertation "'Staatsschutzstrafrecht' in Argentien und Deutschland" nimmt sich Andrés Falcone der Rechtsordnung eines Staates an, der zuletzt zwischen 1976 und 1983 unter dem Regime einer Militärregierung stand, die rund 30.000 Menschen ermorden ließ, Kinder ihren politisch inkorrekten Eltern entzog und erst nach einem Krieg gegen das Vereinigte Königreich ihren internationalen Rückhalt verlor.
Entsprechend größer ist das Interesse an Fragen des Staatsschutzstrafrechts in Argentinien. Nicht zuletzt ist Andrés Falcone daran gelegen, der traditionell in europäischen, gelegentlich auch der deutschen politischen Justiz vorzufindenden Privilegierung sogenannter politischer Gesinnungstäter ein dogmatisches Ende zu bereiten.
Nach 1983 hatte der argentinische Staat viel damit zu tun, die mörderischen Offiziere nicht straflos zu lassen. Statt auf inländisches Recht allein, musste dieses Anliegen auf völkerrechtliche Argumente gestützt werden.
Hierzulande und heutzutage haben Delikte wie Hoch- und Landesverrat etwas von juristischer Science-Fiction. Erst in der rechtsvergleichenden Perspektive erfährt man, was ihre Axiome und Tatbestände in einer Rechtswirklichkeit, die ihrer bedarf, konkret bewirken.
Einen Roman, dessen Handlung im Argentinien zur Zeit der Militärdiktatur angesiedelt ist ("Die Stille, die du ließt") und eine biografisch geprägte Erzählung zum israelisch-arabischen Krieg von 1947 ("Samla") hat der im schwäbischen Eislingen aufgewachsene Josef Alkatout bereits publiziert, inzwischen liegt seine rechtswissenschaftliche Dissertation "The Legality of Targeted Killings in View of Direct Participation in Hostilities" vor.
In der Regel wenden sich Juristen der schöngeistigen Literatur zu, nachdem sie die hässlichen Seiten des Rechts bearbeitet haben, hier ist es nun also umgekehrt und der Gegenstand ist auch wirklich hässlich:
Seit den Anschlägen des 11. September 2001 töteten die Streitkräfte und Geheimdienste der USA eine steigende Zahl von Menschen, die als terroristische Feinde ausgemacht wurden, mittels vorzugsweise unbemannter Flugzeuge.
In seiner Hamburger Dissertation grenzt Alkatout den kleinen Bereich ein, in dem die gezielte Tötung nach humanitärem Recht und Kriegsvölkerrecht in Betracht kommt, differenziert nach innerstaatlichen und völkerrechtlichen Fragestellungen:
Wer ist wann als Kombattant, wer ist wann als Zivilist zu behandeln? Ist die Entscheidung über den Einsatz der militärischen Gewalt der richterlichen Prüfung zugänglich?
In einer Gesellschaft, in der schon ein Blechschaden am Auto von mindestens drei Juristen betreut sein will, wirkt die letzte Frage ein wenig merkwürdig, doch würdigt Alkatout die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Israels, in der die gezielten Tötungen im "Kampf gegen den Terror" erstmals juristisch erörtert wurden, statt sie allein als politisch-militärische Kompetenz zu behandeln, als "Meilenstein" – das Urteil erging nach Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten asymetrischer Kriegsführung im Dezember 2006.
Für einfache Erklärungen ist der völkerrechtliche Diskurs zu vertrackt. Einen Weg zu einem möglichen Verständnis weist diese Dissertation dennoch.
Wenn das Recht auf das Meer zu sprechen kommt oder auf den Wald oder auf Fließgewässer, bringt es mitunter Dokumente hervor, die den juristischen Leser auf eine vage Weise glücklich machen können, weil sie Historisches mit der Gegenwart verbinden, jahrhundertelang erprobte Rechtsideen im Tagesgeschäft einsetzen und dann vielleicht auch noch eine befriedigende Lösung finden.
Wer das nicht glaubt, lese einfach einmal die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25. Oktober 1984 zu den Anlandungen einer Moselinsel nach. Wem das nicht gefällt, hätte besser BWL studiert.
Eine Doktorarbeit, die das Zeug dazu hat, ähnlich befriedigende Gefühle auszulösen, obwohl oder gerade weil sie keine rechtswissenschaftliche Studie ist, wurde von Miriam Seemann in Hamburg vorgelegt: "Water Security, Justice and the Politics of Water Rights in Peru and Bolivia".
Der sichere Zugang zum Wasser als Bedingung bäuerlichen Lebens ist in den (semi-) ariden Regionen des Planeten von existenzieller Bedeutung. Das Recht kann als Instrument dienen, dieses Interesse in formalen Bahnen zu verhandeln, stand aber in den kolonial geprägten Staats- und Rechtsordnungen lange Zeit ausschließlich im Dienst der Mächtigen, und das waren im Zweifel sicher nicht Kleinbauern, die kaum mehr als die regionalen Märkte versorgen konnten.
In Bolivien und Peru werden seit einigen Jahren unterschiedliche juristische Strategien verfolgt, die hergebrachten, noch nicht als Recht anerkannten Observanzen in leistungsfähigere Formen zu überführen, auch mit Blick darauf, dass das (klein-) bäuerliche Interesse am Wasser mit großen Landaufkäufern aus den Schwellenländern zunehmend in Konkurrenz tritt.
Miriam Seemanns Dissertation ist am Hamburger GIGA-Institut entstanden, einer feinen interdisziplinären Einrichtung, die beispielsweise die rechtsstaatlichen Defizite und Entwicklungsmöglichkeiten in Nordafrika schon thematisierte, bevor der "Arabische Frühling" ausbrach. Nur zehn Prozent der Aufmerksamkeit, die das tagespolitische Geschrei bekommt, umgelenkt auf diese Forschungsarbeit: die Welt wäre ein kleines Stück besser, jedenfalls klüger.
Dass rechtswissenschaftliche Literatur mit der Leichtigkeit eines erzählenden Sachbuchs oder eines gut getrimmten Romans daherkommen kann, erfahren Juristinnen und Juristen viel zu selten. Die "Einführung in die Rechtsvergleichung" von Konrad Zweigert und Hein Kötz (3. Auflage, 1996) war ein solches Werk, das jedenfalls erzählerisch befriedigte.
Gemessen daran sind spätere Abhandlungen im Bereich der Rechtsverleichung mitunter weniger elegant, dafür aber im methodischen Zugriff auf ihren Gegenstand anspruchsvoller. Ein Beispiel hierfür gibt Christian Stempel mit seiner 2015 vorgelegen Dissertation "Treu und Glauben im Unionsprivatrecht".
Seit Bernd Rüthers’ berühmter Habilitationsschrift aus dem Jahr 1968, "Die unbegrenzte Auslegung – Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus", waren die Generalklauseln des deutschen Zivilrechts, insbesondere jene von Treu und Glauben, auch einem breiteren Publikum als Einfallstor für unterschiedlichste weltanschauliche Überzeugungen bekannt. Nach 1933 wurde das Parteiprogramm der NSDAP über die Generalklauseln Quelle zivilrechtlicher Auslegungskünste, nach 1949 trat die Drittwirkung der Grundrechte auf diesem Weg ins Leben des deutschen Ziviljuristen.
Bei Christian Stempel lernen wir Treu und Glauben nun von einer viel bescheideneren Seite kennen, als Rechtsfigur, die im relativen Durcheinander des Zivilrechts der Europäischen Union erst noch Gestalt annehmen will.
Als weltanschauliches Steuerungsinstrument im Unionsprivatrecht kommen Treu und Glauben hier wohl schon deshalb nicht in Betracht, weil das europäische Privatrecht allzu unsystematisch, vom umfassenden Zugriff klassischer nationalstaatlicher Kodifikationen noch weit entfernt ist.
Für einen Zugriff auf eben dieses unsystematische europäische Zivilrecht ist die Doktorarbeit von Stempel aber vielleicht für jene Juristen interessant, die beim üblichen Zugang über Kommentar- und Einführungsliteratur schnell ermüden: Stempel bietet eine systematische Darstellung eines wichtigen Konzepts einer noch unsystematischen Rechtsordnung. Es gibt schlechtere Wege, zu Ordnung im Kopf zu kommen.
Bei der Lektüre der großen staatstragenden Tageszeitung aus Frankfurt am Main war dieser Tage wieder einmal zu entdecken, dass die Kunst des dialektischen Denkens oder jedenfalls Darstellens dort noch sehr ausbaufähig ist.
Unter der Überschrift "Amerika ist die größte Steueroase" referierten die Kollegen der FAZ nicht mehr ganz taufrisch, dass es vor allem die Bundesstaaten der USA potenziellen Steuerhinterziehern recht leicht machten, Geschäfte über Briefkastenfirmen abzuwickeln, Geld zu waschen oder sich in Bankgeheimnisse zu hüllen. Der Informationsbedarf der neupatriotischen Man-muss-doch-noch-sagen-dürfen-Leserschaft war damit natürlich hinreichend bedient.
Für ein komplexeres, der Sache des Steuerrechts und der sozialen Verteilungsfragen angemesseneres Bild lässt sich die interessante Dissertationsschrift von Theresa Pfeifle zur Hand nehmen: "Finanzielle Anreize für Whistleblower im Kapitalmarktrecht".
So kennt das Land der tapferen und der freien Amerikaner nicht nur den relativ leichten Zugang zur Briefkastenfirma, sondern auch ein Rechtsinstitut wie die Qui-tam-Klage: Wird der Staat betrogen, bleibt aber untätig, können Privatleute in seinem Namen gegen den potenziellen Schädiger vorgehen. Fiskus und Qui-tam-Kläger erhalten im Erfolgsfall jeweils ihren Anteil an der Beute.
Es findet sich eine ganze Reihe von weiteren Regelungen dazu, den Verrat von Steuerhinterziehung oder unkoscheren Geschäften zu Lasten des Fiskus attraktiv zu machen. Damit fällt nicht nur ein anderes Licht auf die US-Briefkastenfirma als in der kapitalismuskritischen FAZ-Lesart, Pfeifle erörtert zudem die Übertragbarkeit US-amerikanischer Whistleblowing-Konzepte auf das deutsche Recht.
Was ist für eine demokratisch verfasste Gesellschaft wichtiger: Dass alle, die dazu verpflichtet sind, ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend ihren Beitrag zur Finanzierung des Staatshaushalts und der Sozialversicherungen zu leisten? Oder dass ein Fernseh-Clown schmutzige Wörter über ausländische Potentaten sagen darf?
Man möchte das eine nicht gegen das andere ausspielen, wundert sich aber doch etwas über die öffentliche Ignoranz in Sachen Staatsfinanzen und wünscht der äußerst spannenden Doktorarbeit von Pfeifle zahllose Leserinnen und Leser.
Martin Rath, Sieben spannende Jura-Dissertationen: Menschenfleischsuche und Whistleblower-Recht . In: Legal Tribune Online, 15.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19379/ (abgerufen am: 19.07.2024 )
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