Law in Literature: Ist die Harry-Potter-Diss "Quat­sch­jura"?

von Katharina Reisch

31.07.2024

Eine juristische Doktorarbeit zu Harry Potter löste auf der Plattform X noch vor ihrem Erscheinen einen Shitstorm aus. Zu Recht? Katharina Reisch hat die Arbeit gelesen.

Die juristische Doktorarbeit der Volljuristin Jannina Schäffer war noch nicht einmal erschienen, da waren die emotionalen Eruptionen eines digitalen Shitstorms schon deutlich spürbar. Anonym machten mehrere Nutzer:innen auf der Plattform X ihrem Ärger Luft. Sie schrieben etwa: "diese diss macht mich so unnormal aggressiv", "Ich soll auf der Stelle sterben wenn ich dafür 50 euro ausgebe" oder "[…] das wäre mir so gottlos peinlich". Jemand fordert: "Studienverbot für Millenials jetzt!".  

Hintergrund der Aufregung: Schäffer hat über "Harry Potter und die Gesetze der Macht" promoviert. Ihre mit der Bestnote "summa cum laude" bewertete Arbeit erschien mit dem Untertitel "Wie das Strafprozessrecht als 'Machtinstrument' im Kampf zwischen 'Gut' und 'Böse' missbraucht werden kann am Beispiel der Harry-Potter-Bücher von J.K. Rowling und unter Berücksichtigung des deutschen Strafrechts sowie der Besonderheiten im NS-Staat". Betreut wurde sie von Prof. Dr. Anja Schiemann, Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität zu Köln.  

Die Untersuchung widmet sich den Bezügen zwischen dem aktuellen sowie historischen deutschen Recht und dem Rechtssystem in den Harry-Potter-Büchern. Vergleiche zwischen dem NS-(Un-)Recht und dem "magischen Recht" der Harry-Potter-Welt ziehen sich wie ein roter Faden durch die Arbeit.

"Promovieren first, Bedenken second"

Der Untersuchungsgegenstand "Harry Potter" genügte vielen bereits als Anlass zur Empörung ("Die bekommt einen Doktortitel für eine Harry Potter Fanfiction"). Doch auch die Vergleiche mit dem NS-Unrecht irritierten: Prof. Dr. Felix Hartmann, LL.M. (Harvard), Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Freien Universität Berlin, postete drei Tage vor Veröffentlichung der Arbeit auf X einen Screenshot aus der Leseprobe und schrieb dazu "Promovieren first, Bedenken second".

Der Screenshot zeigte: Die Fußnote 1.803 der Dissertation, in der es heißt: "Die Verfasserin möchte durch derartige Vergleiche weder an dieser noch an anderer Stelle das Leiden der durch den NS-Staat kriminalisierten und ermordeten Menschen verharmlosen" (S. 350).

Ist die Harry-Potter-Diss "Quatschjura"?

Starke Meinungen auf X also, die sich bereits vor Erscheinen der Arbeit auf das Inhaltsverzeichnis und drei Seiten aus dem hinteren Teil der 550-seitigen Untersuchung stützen. Man mag kritisch hinterfragen, warum eine einzelne Fußnote ohne jeden Kontext als Anlass für “Bedenken” zitiert wird. Gleichwohl aber lebt Wissenschaft von Kritik und vom Diskurs. Es ist wichtig, Forschungsergebnisse zu kritisieren. Und deshalb müssen wir reden: Über die Frage, ob die Harry-Potter-Diss eine "richtige" Doktorarbeit und nicht nur eine Form von "Quatschjura" ist, die noch dazu NS-Unrecht verharmlost.

Der Chefredakteur der Neuen Juristischen Wochenschrift, Tobias Freudenberg, erklärt den neuen, aus sozialen Medien hervorgegangenen Begriff "Quatschjura" so: "Quatschjura ist keine Spezialität von Laien. Auch Juristinnen und Juristen bekommen regelmäßig dieses Etikett angeheftet, wenn sie allzu steile Thesen vertreten, sich das Recht auf ein bestimmtes Ergebnis zurechtbiegen oder rechtliche Bewertungen ohne jede Sachverhaltskenntnis vornehmen." 

Die Frage ist also: Wie steil ist die These, die Harry-Potter-Bücher ließen sich rechtswissenschaftlich erforschen, wirklich?

"Law in Literature" verbindet Rechts- und Literaturwissenschaft

Nun, sicher ist die These unkonventionell. Übermäßig steil ist sie jedoch nicht. Denn Harry Potter kann in der vor allem im anglo-amerikanischen Rechtsraum etablierten Disziplin "Law and Literature" sehr wohl Gegenstand rechtswissenschaftlicher Forschung sein. Dieser interdisziplinäre Forschungsbereich verbindet Rechts- und Literaturwissenschaft. Hierzulande wird er zwar wenig beachtet, ist aber gleichwohl anerkannt.  

"Law and Literature" basiert auf der Annahme, dass Autor:innen der "schönen" Literatur die gesamtgesellschaftlichen Implikationen des Rechts viel freier reflektieren können als Jurist:innen und so wichtige Impulse für die Rechtswissenschaft setzen (Schäffer, S. 13). "Es geht darum, Literatur als Verdichtung und Fühler gesellschaftlicher oder geschichtlicher Phänomene zu untersuchen. Das Erkenntnisinteresse besteht zum Beispiel in Fragen wie: Inwiefern produziert bzw. spiegelt ein literarischer Text – anders als ein Rechtstext – Aussagen über das bzw. Erfahrungen mit dem Recht? Welche rechtspolitischen, -philosophischen oder -theoretischen Denkanstöße ergeben sich hieraus für das reale Rechtssystem?", erklärt die Juristin und Literaturwissenschaftlerin Katharina Siepmann-Kolegbe, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtssoziologie bei Prof. Dr. Katrin Höffler an der Universität Leipzig zu "Law and Literature" forscht.

Die Dissertation von Schäffer gehört zur Unterkategorie "Law in Literature", da sie sich mit der Darstellung von Recht in einem literarischen Werk beschäftigt. Typischerweise widmet sich die "Law in Literature"-Forschung traditionellen Texten der Weltliteratur, etwa von Franz Kafka, William Shakespeare oder – wie in einer 1944 veröffentlichten Schrift des Rechtsphilosophen Gustav Radbruch – Johann Wolfgang von Goethe.  

Eignet sich "Harry Potter" für eine "Law in Literature"-Arbeit?

Die rechtswissenschaftliche Befassung mit "Harry Potter" ist auch im Forschungsfeld "Law in Literature" ungewöhnlich. Die Lücke in der deutschsprachigen Forschungslandschaft ist groß.

Dabei biete sich eine Untersuchung des fiktionalen Rechtssystems in den Harry-Potter-Büchern für eine interdisziplinär-rechtswissenschaftliche Analyse besonders an, so Siepmann-Kolegbe. Man könne etwa untersuchen, ob Magie in den Harry-Potter-Büchern als Schlüssel diene, um Probleme zu lösen, die auch in unserem realen Rechtssystem bestehen, oder ob die Magie im Gegenteil gerade Probleme schaffe, die das reale Recht durch Sicherungsmechanismen zu verhindern wisse. Begreife man die Harry-Potter-Rechtsprobleme als dystopische Zukunftsvision unseres Rechtssystems, könne man Lösungsansätze entwerfen.

Damit derartige Überlegungen aber überhaupt möglich werden, muss zuerst das magische Rechtssystem erschlossen und in Beziehung zu Strukturen des realen Rechts gesetzt werden: Wie ist das politische System in den Harry-Potter-Büchern gestaltet? Welche Macht hat der Zaubereiminister? Wie funktioniert das magische Justizministerium? Welchen Schutz bietet die magische Strafprozessordnung für Angeklagte? Welche Prozessmaximen gelten? Wie kann das Strafprozessrecht als Machtinstrument missbraucht werden? Was verrät der Umgang mit magischen Minderheiten und Kreaturen? Diese und weitere Fragen werden in der Harry-Potter-Diss ebenso umfassend wie differenziert analysiert.  

Die Autorin meistert die Herausforderung, die in "Harry Potter" enthaltenen, oft interpretationsbedürftigen Hinweise zum magischen Recht schlüssig und mithilfe zahlreicher Belege nah am Originaltext zu deuten. Sie verknüpft ihre Erkenntnisse zum magischen Recht virtuos mit vergleichbaren Strukturen im aktuellen wie historischen deutschen Recht.  

Verharmlost die Harry-Potter-Diss NS-Unrecht?

Dabei zieht sie überzeugende und sensible Parallelen zum Nationalsozialismus. Obgleich es der Untersuchung sicher nicht geschadet hätte, ihr klarstellend einen der Fußnote 1.803 vergleichbaren, ausdrücklichen Hinweis voranzustellen, muss eines ganz deutlich gesagt werden: Das NS-(Un-)Recht verharmlost die Arbeit keineswegs. Im Gegenteil leuchtet sie kritisch die strukturellen Defizite des magischen Rechts aus, indem sie etwa danach fragt, wie es zu einer Verfolgung muggelstämmiger, also nicht "reinblütiger" Zauberer kommen und wie das politische und juristische System die Machterlangung des bösen Zauberers Lord Voldemort erleichtern konnte.

Die hierbei aufgezeigten Parallelen zur Machtergreifung Adolf Hitlers und zur nationalsozialistischen Verfolgung von Juden entspringen auch nicht der Fantasie der Verfasserin. In der Untersuchung wird umfangreich belegt, dass diese Parallelen nicht nur von der Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling selbst öffentlich erwähnt wurden, sondern auch im literaturwissenschaftlichen Forschungsstand konsentiert sind (m.w.N. S. 8, 23, 415-420, 426). Zudem benennt Schäffer stets auch Unterschiede zwischen dem magischen und dem NS-(Un-)Recht. Wo nötig, betont sie das gesteigerte Unrecht des NS-Regimes (z.B. S. 356, 471).

Hier ist noch Platz für Anschlussforschung

Festzuhalten ist damit: Die Harry-Potter-Diss ist kein "Quatschjura" und NS-Unrecht verharmlost sie auch nicht. Im Gegensatz zu unzähligen anderen Doktorarbeiten eignet sie sich sogar – nicht zuletzt aufgrund des konzisen Schreibstils der Autorin – als spannende Freizeitlektüre für Harry-Potter-begeisterte Jurist:innen. Sie werden darin alles finden, was sie immer schon mal über das Rechtssystem in Harry Potter und seine Vergleichbarkeit mit dem deutschen Recht wissen wollten.  

Gleichwohl aber schöpft die Arbeit das Potenzial der Harry-Potter-Bücher nicht komplett aus. Sie endet nach der grundlegenden Aufschlüsselung der Bezüge zwischen dem magischen und dem realen Recht. Obgleich diese gelungen ist, bleibt letztlich unklar, "welche nützlichen Erkenntnisse sich für deutsche Juristen […] ableiten lassen" (S. 1, 9). Am Ende der Arbeit steht zwar die Erkenntnis, dass das "Unrechtsregime unter Lord Voldemort […] die gleichen Bedingungen fruchtbar machen [konnte], wie das Unrechtsregime unter Adolf Hitler" und dass es "im heutigen deutschen Recht […] zahlreiche Gegenmechanismen gibt, die einen derartigen Machtmissbrauch deutlich erschweren" (S. 476). Hier hätte die Autorin aber noch einen Schritt weiter gehen und ihre Erkenntnisse zum Beispiel für rechtspolitische Impulse zur aktuell so drängenden Frage nach der Gestaltung einer möglichst resilienten Demokratie fruchtbar machen können. Da man hierzu aber sicher eine eigenständige Doktorarbeit schreiben kann, wird sie sich wohl dazu entschlossen haben, nach 550 Seiten einen Punkt zu machen. Insofern ist ihre Arbeit als Einladung zu verstehen: Hier ist noch Platz für Anschlussforschung.

Jannina Schäffer, Harry Potter und die Gesetze der Macht, Wie das Strafprozessrecht als "Machtinstrument" im Kampf zwischen "Gut" und "Böse" missbraucht werden kann am Beispiel der Harry-Potter-Bücher von J.K. Rowling und unter Berücksichtigung des deutschen Strafrechts sowie der Besonderheiten im NS-Staat, Fachmedien Recht und Wirtschaft, 550 Seiten, 49 Euro, ISBN 978-3-8005-1951-4.

Zitiervorschlag

Law in Literature: . In: Legal Tribune Online, 31.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55114 (abgerufen am: 01.09.2024 )

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