Rezension "Law statt Order": Rechts­staat und Rechts­kampf

von Dr. Christian Rath

16.04.2024

Der linke Rechtsprofessor Maximilian Pichl kämpft in seiner Streitschrift "Law statt Order" gegen eine "Umdeutung" des Begriffs des Rechtsstaats - und will doch nur seine eigene Deutung durchsetzen. Christian Rath hat das Buch gelesen.

Die Formulierungen, die Maximilian Pichl kritisiert, sind floskelhaft und allgegenwärtig. Auf schwere Straftaten soll mit der "ganzen Härte des Rechtsstaats" reagiert werden, wahlweise mit der "vollen Härte des Rechtsstaats". Der Rechtsstaat dürfe "nicht zurückweichen", "nicht kapitulieren" und auch "nicht zuschauen". Er müsse vielmehr "standhalten" und "durchgesetzt werden". So reden Politiker:innen, Journalist:innen und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Die Härte des Rechtsstaats gilt Straftäter:innen, Rechtsextremist:innen und Ausländer:innen, die sich der Abschiebung entziehen.

Pichl, der seit 2023 an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden lehrt, sieht in solchen Formulierungen eine "Umdeutung" des Rechtsstaatsbegriffs, die er vehement ablehnt. Hier werde ein "ordnungspolitischer" Rechtsstaatsbegriff propagiert; angelehnt an das amerikanische Schlagwort von "law and order". Dort gehe es nur um harte Strafen und scharfe Maßnahmen, oft mit rassistischem Unterton.

Den Rechtsstaatsbegriff des Grundgesetzes sieht Pichl, Doppeldoktor der Politik- und Rechtswissenschaften, dagegen in liberaler Tradition und beruft sich dabei auf Ex-Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der Rechtsstaat ziele "stets auf die Begrenzung und Eingrenzung staatlicher Macht und Herrschaft im Interesse der Freiheit der einzelnen, auf den Abbau der Herrschaft von Menschen zugunsten der 'Herrschaft der Gesetze'".

Die Ambivalenz des Rechtsstaats

Nun lässt sich der Begriff des Rechtsstaats sicher im Gegensatz zum "Polizeistaat" verstehen, bei dem die Exekutive tendenziell unbeschränkte und unkontrollierte Macht ausüben kann. Aber die "Herrschaft der Gesetze" schließt eine harte und konsequente Anwendung derselben nicht von vornherein aus, wie Pichl nahezulegen versucht.

Denn an sich ist der Terminus Rechtsstaat ein "Schleusenbegriff", der offen für Wandel ist, wie Böckenförde einräumte. Auch Pichls akademischer Lehrer, der Frankfurter Rechtsprofessor Günter Frankenberg, stellte fest: "Als Verfassungsprinzip und normative Grundlage [...] teilt der Rechtsstaat die Unbestimmtheit des Grundsätzlichen".

Suhrkamp Verlag

Pichl hadert selbst immer wieder mit dem Konzept des Rechtsstaats. Historisch habe der Rechtsstaat zunächst Frauen ausgeschlossen, ebenso die Bevölkerung von kolonisierten Gebieten. Während der Rechtsstaat im 19. Jahrhundert im Kontext seiner bürgerlichen Erfindung das Eigentum gegen willkürliche Eingriffe der Obrigkeit schützte, habe der Schutz der Arbeiter:innen keine Rolle gespielt.

Lange war die Linke sogar besonders skeptisch gegenüber dem Konzept des Rechtsstaats. Sie sah darin ein Manöver, nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts fortschrittliche demokratische Gesetze durch die bürgerlich dominierte Justiz einzuhegen.

Pichl hält auch heute noch - neben der Verteidigung des Rechtsstaats - eine "grundsätzliche progressive Kritik des Rechtsstaats" für unerlässlich. Der Rechtsstaat sei "nicht alternativlos". Eine "radikale Demokratisierung aller Lebensbereiche, einschließlich der Ökonomie, könnte neue Assoziationen und Kollaborationen hervorbringen, die an die Stelle des liberalen Rechtsstaats treten", schreibt Pichl im Schlusskapitel, das er freilich als "Utopie" kennzeichnete.

Angesichts dieser Ambivalenz gegenüber dem liberalen Rechtsstaatsbegriff überrascht die Vehemenz, mit der Pichl den Befürworter:innen eines Law-and-Order-Rechtsstaats die Legitimation abspricht, den Begriff überhaupt zu verwenden.

Legitimer Ruf nach harten Strafen

Die von Pichl kritisierten Rufe nach der "Härte des Rechtsstaats" sind populistische, aber legitime justizpolitische Diskussionsbeiträge. Solange Freiheitsstrafen und Abschiebungen Teil der rechtsstaatlichen Ordnung sind, wird man dem Rechtsstaat eine gewisse Härte nicht absprechen können. Diese Härte einzufordern, kann daher auch nicht rechtsstaatswidrig sein. Der Rechtsstaat ist nicht nur dann rechtsstaatlich, wenn er hinter den eigenen Möglichkeiten zurückbleibt.

In der pluralistischen Diskussion über rechtsstaatliche Kriminalpolitik sind Forderungen nach harten Strafen schon deshalb nicht systemwidrig, weil sie an anerkannte Strafzwecke wie die Generalprävention und die Normbestätigung anknüpfen. Sie sind genauso legitim wie der Hinweis auf die geringe faktische Abschreckungswirkung harter Strafen oder die Warnung vor der schädlichen Wirkung von Gefängnisstrafen.

Der Ruf nach härteren Strafen ist auch kein konservatives Alleinstellungsmerkmal, sondern kommt bei entsprechenden Themen auch aus progressiven sozialen Bewegungen. Die Bestätigung von Rechtsgütern wie einer intakten Umwelt oder der sexuellen Selbstbestimmung mit den Mitteln des Strafrechts ist schon seit den 1980er-Jahren linker Mainstream. Heute werden dort milde Urteile gegen rechtsextreme Gewalt ebenso kritisiert wie die weitgehende Straflosigkeit möglicherweise rechtswidriger Polizeigewalt.

Im internationalistischen Kontext sind Kampagnen gegen die Straflosigkeit von Kriegsverbrechen und Völkermord ebenso zu nennen, wie die Forderung nach gerechten Strafen bei Folter und Diktaturverbrechen. Organisationen wie das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) wenden sich immer wieder mit Strafanzeigen an den Generalbundesanwalt. All dies ist Teil eines breiten rechtsstaatlichen Diskurses, also von "Rechtskämpfen", wie Pichl sagen würde.

Politische Rhetorik im juristischen Kleid

In einem weiteren Teil des 288 Seiten dicken Buches befasst sich Maximilian Pichl mit rechtsextremistischen Versuchen, den Rechtsstaatsbegriff zu kapern und zu usurpieren. "Der Begriff "Rechtsstaat" dient der Neuen Rechten als trojanisches Pferd, um Einlass in den bürgerlichen Diskursraum zu erhalten", schreibt Pichl.

Eigentlich geht es in diesem Kapitel aber weniger um den Begriff des Rechtsstaats, sondern um politische Debatten, die mit juristischen Vorwürfen aufgeladen und dramatisiert werden, etwa wenn Kanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingspolitik "Hochverrat" vorgeworfen wurde oder der Bundesregierung in der Corona-Krise die Schaffung einer Diktatur.

Ähnlich geht Pichl selbst vor, wenn er die Rechtsstaats-Krise der EU analysiert. Er beschreibt dann nicht nur die Versuche der Orban- und PiS-Autokratien in Ungarn und Polen, sich der Kontrolle einer unabhängigen Justiz zu entziehen, indem diese auf Linie gebracht wird. Pichl thematisiert auch eine "andere Rechtsstaatskrise" der EU, die von der EU selbst ausgehe. Als rechtsstaatswidrig gilt ihm dabei neben der EU-Flüchtlingspolitik auch der Umgang mit überschuldeten EU-Staaten in der Euro-Krise ab 2008. So ist es für Pichl auch "rechtsstaatswidrig", dass die EU ihre Hilfen von Strukturanpassungen und Sparanstrengungen der Empfängerstaaten abhängig machte. Dies sei nicht ausreichend in den EU-Verträgen geregelt gewesen.

Maximilian Pichl zeigt im Rahmen seines Buches eine hohe Variabilität im Umgang mit dem Begriff des Rechtsstaats, den er mal verteidigt, mal kritisiert, mal gegen Instrumentalisierungen in Schutz nimmt, mal selbst instrumentalisiert.

Maximilian Pichl, "Law statt Order", Der Kampf um den Rechtsstaat. Suhrkamp Verlag, 288 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-518-12837-4. 

Zitiervorschlag

Rezension "Law statt Order": . In: Legal Tribune Online, 16.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54341 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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