Tag der Wohnungslosen: "Der Bun­des­re­gie­rung liegen keine Erkennt­nisse vor"

von Martin Rath

11.09.2016

2/2: Menschenwürdeschutz per Polizeirecht

Der Umgang mit Obdachlosigkeit bewegt sich bis heute in diesem System eines um den Schutz der Menschenwürde ergänzten polizeiwidrigen Zustands.

Das ist ein bisschen merkwürdig. Mancher hat vielleicht noch im Ohr, dass die Reform des Sexualstrafrechts im Sommer 2016 mit der Umsetzung einer Istanbul-Konvention begründet wurde. Dieses völkerrechtliche Dokument stammt aus dem Jahr 2011, trat in Deutschland 2014 in Kraft. Seine angebliche Nichtumsetzung galt in diesem Jahr als Skandal.

Am gleichen Ort, der großen Stadt am Bosporus, beschloss eine Konferenz der Vereinten Nationen 1996 eine schöne Resolution, die es den Staaten der Welt unter anderem aufgab, jenen beim Zugang zu einer Wohnung zu verhelfen, "who are unable to participate in housing markets" (United Nations Conference on Human Settlements, Habitat II, Punkt 9).

Die Nichtumsetzung von Zielen, die man sich auf internationaler Bühne aufgibt, unterliegt offenbar einer stark selektiven Wahrnehmung.

Statistik in selektiver Wahrnehmung

Wahrnehmung ist eine schwierige Aufgabe, wenn man lieber gar kein Problem sehen möchte.

Der BAG Wohnungslosenhilfe e.V., eine Vereinigung verschiedener Träger öffentlicher Hilfe, beklagt, dass es bis heute keine gesetzlich geregelte Erfassung der Obdachlosigkeit in Deutschland gibt. Für das Jahr 2014 schätzte die BAG rund 335.000 Wohnungslose, 18 Prozent mehr als im Jahr 2012. Besonders drastisch stieg, den Schätzungen nach, im gleichen Zeitraum die Zahl der ernsthaft Obdachlosen, die "Platte machen", ohne jede Unterkunft auf der Straße lebten, von rund 26.000 auf 39.000 Menschen.

Durch das Fehlen von günstigem Wohnraum, einen erklärten Mangel von 2,7 Millionen Kleinwohnungen, die Verfestigung von Armut in langjährigen Arbeitslosengeld-II-Verhältnissen und fehlendes Engagement seitens der Kommunen und Landkreise bei der Abwehr akuten Wohnungsverlusts, schließlich auch aufgrund der Zuwanderung von Flüchtlingen und Arbeitssuchenden aus den EU-Staaten, droht nach Auffassung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. ein massiver Anstieg der Wohnungslosenzahlen: Bis 2018 könnten es bis zu 536.000 Menschen sein, entsprechend dürfte dann auch der Anteil jener steigen, die "Platte machen".

Systematische Erkenntnis bleibt abzuwarten

Bemerkenswert ist die statistische Unaufmerksamkeit. Unter den circa 86.000 Haushalten, die 2014 die Wohnung verloren, waren nur rund 33.000, also 38 Prozent, von einer Zwangsräumung betroffen. Der Rest sind sogenannte "kalte" Wohnungsverluste, ohne staatlichen Zwang. Sie bleiben also weitgehend außerhalb der staatlichen Betrachtung, bis die Betroffenen bei einer Aufnahmeeinrichtung vorstellig werden.

Ein wenig wünscht man sich hier fast den bösen Blick der alten BGH-Senatspräsidenten zurück, die schon einmal von der selbstverschuldeten Obdachlosigkeit sprachen – dem „Platte machen“ ohne Zwang.

Denn was die Aufmerksamkeit der aktuellen Bundespolitik betrifft, so hat sie das – eigentlich recht schöne und zur Solidarität aller Bewohner dieses Planeten einladende – Bild Jacques Monods vom menschlichen "Zigeuner am Rande des Universums" auf ihre Art umgesetzt. Parlamentarisch befragt zu ihrem Wissenstand, die Obdachlosigkeit in Deutschland betreffend, zählt eine Auskunft zu den stehenden Wendungen in der Bundestagsdrucksache (PDF): "Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse vor."

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Tag der Wohnungslosen: . In: Legal Tribune Online, 11.09.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20546 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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