Der 11. September wurde im Gedenktagkalender auch als Tag der Wohnungslosen festgelegt. Dabei sind die, von Martin Rath durch die Brille von Verwaltung und Justiz betrachtet, vor allem polizeiwidrig, ergänzt bloß um etwas Menschenwürde.
Seit einigen Monaten, dieser persönliche Eindruck mag aber täuschen, scheinen die Pathosformeln aus dem juristischen Poesiealbum wieder Konjunktur zu haben. Es wird dann eifrig, aber meist nicht sonderlich quellensicher darüber diskutiert, wie viel Homogenität Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–) von jener Gesellschaft erwarte, die der Staat nicht selbst generieren könne.
Carl Schmitt (1888–1985), den einer seiner vielleicht intimsten Schüler als großen Adapteur märchenhafter Bilder für die Staatsrechtslehre beschrieben hat – auch Melvilles Moby Dick sei darunter gewesen –, ist mit den Poesiealbum-Sprüchen von der Freund-Feind-Beziehung als Kern alles Politischen und vom Souverän als Herrn des Ausnahmezustands gern mit dabei.
Lehren von Souveränität und Sicherheit haben ihre poetischen Phrasen, andere juristische Großthemen müssen ohne sie auskommen. Für das Thema des heutigen Tages, zu Unrecht bei weitem kein Großthema, lässt sich immerhin eine nachtragen, gefunden beim französischen Nobelpreisträger für Chemie, Jacques Monod (1910–1976), bezogen auf den Status des Menschen in der Welt:
"Wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muss der Mensch endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen."
Justizförmige Abscheu: Im Osten am längsten
Die amtierende Bundesregierung hat sich diese Ehrfurcht gebietende Aussage Monods in Teilen schon sehr zu Herzen genommen, aber auf diesen hässlichen Aspekt kommen wir erst am Ende zurück.
Bis zum 10. April 1974 kannte das deutsche Recht Formen der Obdachlosigkeit, die ihm eine Sanktion wert waren. § 361 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) bedrohte mit Geldstrafe bis 500 Mark oder mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen unter anderem, "wer als Landstreicher umherzieht", "wer bettelt oder Kinder zum Betteln anleitet oder ausschickt", schließlich, "wer, wenn er aus öffentlichen Armenmitteln eine Unterstützung empfängt, sich aus Arbeitsscheu weigert, die ihm von der Behörde angewiesene, seinen Kräften angemessene Arbeit zu verrichten".
In der guten alten Zeit, da am Bundesgerichtshof (BGH) noch Senatspräsidenten ihre Spruchkörper regierten, erkannte das Gericht – in einem barsch kurz gehaltenen Urteil (v. 13.10.1964, Az. 5 StR 356/64) – schon einmal, dass sich ein Angeklagter nicht auf die Not seiner Obdachlosigkeit berufen könne, weil er diese schuldhaft herbeigeführt habe – und dies, obwohl die Aburteilung als "gefährlicher Gewohnheitsverbrecher" auf dem Spiel stand. Wegen wiederholter Diebstähle wohlgemerkt.
Das Strafrecht der DDR erlaubte es bis 1990, Menschen, die "in sonstiger Weise die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch eine asoziale Lebensweise" beeinträchtigten, mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu kujonieren. Neben "Arbeitsscheu" und "Prostitution" blieb im unfreien Teil Deutschlands, wenn auch normativ etwas kaschiert, die Obdachlosigkeit bis zur Beseitigung des SED-Staats ein direkt strafwürdiger Zustand.
Merkwürdige Wendung aus Münster in Westfalen
Vor dem Hintergrund der jahrzehnte-, eigentlich jahrhundertelangen Pönalisierung, die sich im SED-Obrigkeitsstaat sogar bis zu seinem Ende hielt, nimmt sich jenes Urteil etwas merkwürdig aus, mit dem 1992 ein jedenfalls kleiner Rechtsanspruch auf ein menschenwürdiges Obdach etabliert wurde.
War Obdachlosigkeit, diese "Störung der öffentlichen Ordnung", bis dahin als ein Gegenstand definiert, der neben öffentlicher Fürsorge polizeiliche Eingriffe gegen den Obdachlosen rechtfertigte, legte das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 4. März 1992 fest:
"Obdachlose haben grundsätzlich Anspruch auf eine Unterbringung, nach der ihnen eine Unterkunft ganztägig nicht nur zum Schutz gegen die Witterung, sondern auch sonst als geschützte Sphäre zur Verfügung steht" (Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte Münster und Lüneburg, Band 43, S. 8–12, Az.9 B 3839/91).
Bis dahin war es gang und gäbe gewesen, rechtlich unbeanstandet, nur eine Schlafstelle zuzuweisen und den Obdachlosen im Übrigen darauf zu verweisen, "sich tagsüber in der Bahnhofshalle, der Bahnhofsgaststätte, in Leseräumen der Bibliothek und in anderen geschützten, allgemein zugänglichen Räumen sowie bei kirchlichen bzw. caritativen Stellen aufzuhalten".
Der Verwaltungsgerichthof Baden-Württemberg schloss sich im Jahr darauf an und sorgte sich nach südwestdeutscher Sitte: "Die Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft darf weder von der Verwaltung noch von dem Betroffenen als Dauerlösung betrachtet werden" (Beschl. v. 24.2.1993, Az. 1 S 279/93).
2/2: Menschenwürdeschutz per Polizeirecht
Der Umgang mit Obdachlosigkeit bewegt sich bis heute in diesem System eines um den Schutz der Menschenwürde ergänzten polizeiwidrigen Zustands.
Das ist ein bisschen merkwürdig. Mancher hat vielleicht noch im Ohr, dass die Reform des Sexualstrafrechts im Sommer 2016 mit der Umsetzung einer Istanbul-Konvention begründet wurde. Dieses völkerrechtliche Dokument stammt aus dem Jahr 2011, trat in Deutschland 2014 in Kraft. Seine angebliche Nichtumsetzung galt in diesem Jahr als Skandal.
Am gleichen Ort, der großen Stadt am Bosporus, beschloss eine Konferenz der Vereinten Nationen 1996 eine schöne Resolution, die es den Staaten der Welt unter anderem aufgab, jenen beim Zugang zu einer Wohnung zu verhelfen, "who are unable to participate in housing markets" (United Nations Conference on Human Settlements, Habitat II, Punkt 9).
Die Nichtumsetzung von Zielen, die man sich auf internationaler Bühne aufgibt, unterliegt offenbar einer stark selektiven Wahrnehmung.
Statistik in selektiver Wahrnehmung
Wahrnehmung ist eine schwierige Aufgabe, wenn man lieber gar kein Problem sehen möchte.
Der BAG Wohnungslosenhilfe e.V., eine Vereinigung verschiedener Träger öffentlicher Hilfe, beklagt, dass es bis heute keine gesetzlich geregelte Erfassung der Obdachlosigkeit in Deutschland gibt. Für das Jahr 2014 schätzte die BAG rund 335.000 Wohnungslose, 18 Prozent mehr als im Jahr 2012. Besonders drastisch stieg, den Schätzungen nach, im gleichen Zeitraum die Zahl der ernsthaft Obdachlosen, die "Platte machen", ohne jede Unterkunft auf der Straße lebten, von rund 26.000 auf 39.000 Menschen.
Durch das Fehlen von günstigem Wohnraum, einen erklärten Mangel von 2,7 Millionen Kleinwohnungen, die Verfestigung von Armut in langjährigen Arbeitslosengeld-II-Verhältnissen und fehlendes Engagement seitens der Kommunen und Landkreise bei der Abwehr akuten Wohnungsverlusts, schließlich auch aufgrund der Zuwanderung von Flüchtlingen und Arbeitssuchenden aus den EU-Staaten, droht nach Auffassung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. ein massiver Anstieg der Wohnungslosenzahlen: Bis 2018 könnten es bis zu 536.000 Menschen sein, entsprechend dürfte dann auch der Anteil jener steigen, die "Platte machen".
Systematische Erkenntnis bleibt abzuwarten
Bemerkenswert ist die statistische Unaufmerksamkeit. Unter den circa 86.000 Haushalten, die 2014 die Wohnung verloren, waren nur rund 33.000, also 38 Prozent, von einer Zwangsräumung betroffen. Der Rest sind sogenannte "kalte" Wohnungsverluste, ohne staatlichen Zwang. Sie bleiben also weitgehend außerhalb der staatlichen Betrachtung, bis die Betroffenen bei einer Aufnahmeeinrichtung vorstellig werden.
Ein wenig wünscht man sich hier fast den bösen Blick der alten BGH-Senatspräsidenten zurück, die schon einmal von der selbstverschuldeten Obdachlosigkeit sprachen – dem „Platte machen“ ohne Zwang.
Denn was die Aufmerksamkeit der aktuellen Bundespolitik betrifft, so hat sie das – eigentlich recht schöne und zur Solidarität aller Bewohner dieses Planeten einladende – Bild Jacques Monods vom menschlichen "Zigeuner am Rande des Universums" auf ihre Art umgesetzt. Parlamentarisch befragt zu ihrem Wissenstand, die Obdachlosigkeit in Deutschland betreffend, zählt eine Auskunft zu den stehenden Wendungen in der Bundestagsdrucksache (PDF): "Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse vor."
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.
Martin Rath, Tag der Wohnungslosen: "Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse vor" . In: Legal Tribune Online, 11.09.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20546/ (abgerufen am: 19.07.2024 )
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