1. Mai: Raus auf die Straße!

von Martin Rath

01.05.2018

6/9: Vom Gesinde zur Arbeitnehmerschaft

Was wissen wir schon über die Zeit, in der unsere (Ur-) Großeltern ihre Kindheit verbrachten. Der heutige Außen- und frühere Justizminister erklärte, die Einführung von Frauenquoten für Dax-Aufsichtsräte sei der größte emanzipatorische Fortschritt seit der Einführung des Frauenwahlrechts gewesen. Es kann gut sein, dass ihn die Großmütter, sogar die Suffragetten unter ihnen, der Ahnungslosigkeit bezichtigt hätten.

Zu den ersten revolutionären Maßnahmen des Jahres 1918 zählte die Aufhebung der Gesindeordnungen in den Teilstaaten des Deutschen Reichs. Im thüringischen Kleinststaat Reuß jüngere Linie verkündete zum Beispiel der Gesetzgeber in Gestalt des Arbeiter- und Soldatenrats – keine zwei Wochen nach dem 9. November 1918 – ein Gesetz von unspektakulärer Kürze: "Auf das Dienstverhältnis des Gesindes finden in Zukunft die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über den Dienstvertrag Anwendung" (§ 2 Notgesetz vom 19. November 1918 über die Aufhebung der Gesindeordnung). In den größeren deutschen Territorien geschah nichts anderes.

Beseitigt wurde damit das Sonderarbeitsrecht für das Gesinde, im Wesentlichen das Hauspersonal. Seine soziale Mobilität war bis dahin durch die Pflicht, das Gesindebuch zu führen – also eine Art justizfreie Personalakte – extrem eingeschränkt gewesen. Die Entlohnung erfolgte im Wesentlichen durch Naturalleistungen, die Einbindung der Dienstboten in den Haushalt ihrer Herren machte die mehrheitlich weiblichen Beschäftigten extrem vulnerabel. Dienstmädchen dienten Bürgerssöhnen, erste sexuelle Erfahrungen zu machen. Im Schwangerschaftsfall drohte die Entlassung, der Suizid war ein oft gewählter Ausweg. Jedenfalls informell, wenn nicht ausdrücklich normiert, stand der Herrschaft ein Züchtigungsrecht zu.

Das Sonderarbeitsrecht der Gesindeordnung betraf einen Gutteil der urbanen Arbeitnehmerinnen. Möglicherweise war seine Aufhebung doch eine bedeutendere Leistung als spätere Ruhmestaten auf dem Gebiet der Gleichstellung.

Zitiervorschlag

Martin Rath, 1. Mai: . In: Legal Tribune Online, 01.05.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28367 (abgerufen am: 18.11.2024 )

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