Während schon in den 1950er Jahren Gerichtsverfahren unterhaltungslastig verwertet wurden, fand ihre zart soziologische Aufbereitung in den 1990er Jahren nur begrenzte Aufmerksamkeit. Drei Beispiele, juristische Dinge zu popularisieren.
Das Verfahren vor einem kleinen Amtsgericht auf dem Land war kabarettreif. Als Kläger hatte sich ein zarter junger Mann von 19 Jahren eingefunden, noch nicht volljährig – es sind die 1950er Jahre. Seine Mutter sitzt ihm zur Seite, als Zeuge hält sich der Prediger der christlichen Sekte bereit, der beide angehören.
Die Verfahrensgegnerin ist eine 25-jährige Frau, die als erotisch attraktiv, als "eine wahre Großstadtcarmen" beschrieben wird. Vorgehalten wird ihr, dem keuschen jungen Christen nicht nur den Kopf verdreht, sondern auch seiner Familie das Portemonnaie gelehrt zu haben. Vier Monate seien die beiden verlobt gewesen. Weil sie bisher in der sündigen Großstadt als Bardame tätig war, habe sie erfolgreich verlangt, ihr täglich eine Flasche guten französischen Cognacs zur Verfügung zu stellen, um nicht hässliche Entzugserscheinungen zu erleiden.
Die rechtskundige Mutter erweist sich als treibende Kraft der Sitzung. Die erheblichen Kosten für Unterbringung und Verköstigung der jungen Frau möchte sie auf Grundlage von § 1298 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) erstattet sehen: Aufwendungen, die in Erwartung der Ehe von Eltern gemacht wurden, sind beim Rücktritt vom Verlöbnis zu ersetzen.
Rechtsgespräch zum Kranzgeld für den männlichen Verlobten
Zur Überraschung des Richters erklärt die Mutter zudem, ihrem blassen Sohn stehe auch eine billige Entschädigung in Geld zu, weil er seine sexuelle Unbescholtenheit an die Frau verloren habe, Anspruch aus § 1300 BGB.
Auf den Hinweis des Richters, diese Vorschrift begünstige nur weibliche "unbescholtene Verlobte", argumentiert die Mutter als Angehörige einer fundamentalistischen Sekte erstaunlich modern: Das damals noch ganz neue Grundgesetz mit seiner Gleichberechtigung von Mann und Frau erlaube es nicht, nur weibliche Verlobte zu entschädigen, die durch vorehelichen Geschlechtsverkehr um ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt gebracht wurden.
Der Prediger ihrer christlichen Gemeinde soll nun Zeugnis darüber ablegen: "Ob dem jungen Mann durch den Verlust seiner Unschuld tatsächlich ein Schaden erwachsen könne?"
Das sei der Fall, bekundet der Prediger: Keine junge Frau seiner Gemeinde würde die Schande auf sich nehmen, mit dem 19-Jährigen die Ehe einzugehen: "Und sehr gehalten und sympathisch fügt der Prediger hinzu, er wisse wohl, daß diese Strenge in unserer entgotteten Welt merkwürdig, ja komisch erscheine. Jeder gebe aber zu, daß eben durch diese Strenge Zucht und Sitte in seiner Sekte, wie auch in mancher anderen, besser bewahrt geblieben sei als sonst ringsum."
Vielleicht zu gut erzählt, um wahr zu sein?
Der "Kranzgeld"-Prozess endet mit einer hübschen Pointe: Dem Prediger missfällt auch der Versuch der Mutter, die sogenannte Unschuld ihres Sohnes zu monetarisieren, derlei werde in seiner Gemeinde nicht geduldet. Sie zieht daraufhin ihren Antrag zurück.
Enthalten ist diese Geschichte in einer Sammlung von Erzählungen unter dem Titel "Liebe vor Gericht", die der seinerzeit sehr bekannte Justizreporter, Feuilletonist und Schriftsteller Herrmann Mostar (1901–1973) erstmals 1961 veröffentlichte.
Zum Leben von Herrmann Mostar – bürgerlicher Name: Gerhart Herrmann – liegen leider nur dürre Angaben vor. Sie lassen aber auf eine abenteuerliche Biografie schließen: Neben der Ausbildung zum Volksschullehrer arbeitete er schon in jungen Jahren journalistisch, verbrachte seit Ende der 1920er Jahre Wanderjahre auf dem Balkan, wo er sein Pseudonym fand. Nach der Machtübergabe an Hitler floh er 1933 zunächst nach Österreich, dann nach Jugoslawien und tauchte in Deutschland 1945 als Gründer eines der zahlreichen Nachkriegskabaretts wieder auf.
Ob Mostars Gerichtserzählungen nur gut erfunden sind oder über einen – erheblichen – Wahrheitskern verfügen, lässt sich kaum beurteilen. Als Beleg dafür, wie vor 60 Jahren über die Justiz geschrieben und beim Rundfunk gesendet wurde, sind sie jedoch beeindruckend. Stilistisch sind sie es ohnehin. Um nur ein weiteres Beispiel herauszugreifen:
"'Was wollen Sie denn darüber schreiben?' sagt der Verteidiger nach der Verhandlung. ‚Der Richter war doch sehr menschlich. Und das Urteil doch sehr milde. Und der Staatsanwalt – na ja, was soll er denn sonst sagen! So was kommt doch hier alle Tage vor – so eine Zehnminutensache!‘"
Was der Strafverteidiger hier als "so eine Zehnminutensache" bezeichnet, erweist sich in der Erzählung "Das kommt doch alle Tage vor …" als die bittere Geschichte einer Frau, die während des Zweiten Weltkriegs eine Risikoschwangerschaft überlebt, obwohl die NS-Medizin wenig Wert auf ihr, umso mehr auf das Leben des Kindes legt, ihren Mann verliert, ungewollt erneut schwanger wird – um schließlich mit untauglichen Mitteln einen Schwangerschaftsabbruch versucht.
Herrmann Mostar schrieb neben seinen eigenen gerichtsjournalistischen Arbeiten auch Beiträge zu der in den Jahren 1952 bis 1956 ausgestrahlten Rundfunkserie "Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück". Es handelte sich um 79 Hörspiele mit Zuhörerdiskussion zur Entscheidungsfrage, die auf authentischen Fällen beruhten. Dass Jahrzehnte später ein vergleichsweise grobmotorischer Schriftsteller wie Ferdinand von Schirach (1964–) wegen ähnlicher Formate zum rechtspädagogischen Aufklärer hochgejazzt wurde, wundert ein wenig.
Ein erkennbar justizkritischer Kopf zählte also zu den führenden Autoren, die in den Gründerjahren der Republik dem Publikum etwas über das Gerichtswesen vermittelten – eine rechts- oder medienhistorische Untersuchung zu Mostar liegt bisher aber leider nicht vor.
So seriös, dass auch Juristen nicht daran vorbeikommen sollten
Von vollständig anderer Qualität als die Gerichtserzählungen Herrmann Mostars sind die "Prozesse, die Geschichte machten" des langjährigen Bremer Privatrechtsgelehrten Roland Dubischar (1935–).
Dubischar entschlüsselte in diesem 1997 vorgelegen Werk zu zehn bedeutenden Zivilrechtsprozessen der Bundesrepublik neben den juristischen Problemen jeweils auch ihre soziale und politische Umwelt.
Am Beispiel einer Blinddarmoperation mit Todesfolge im Jahr 1969 zeichnet Dubischar etwa die Entwicklung des Arzthaftungsrechts seit den 1970er Jahren nach, die Anschnallpflicht wird als zähes Wechselspiel zwischen progressiver Rechtsprechung und opportunistischer Gesetzgebung beschrieben, die juristische Auseinandersetzung um den Enthüllungsjournalismus von Günter Wallraff bei der "Bild"-Zeitung als "siebenjähriger Prozesskrieg" aufbereitet.
Über die Frage, wie viel soziologische oder psychologische Kenntnisse angehende Juristinnen und Juristen verfügen sollten, wurde seit den ausgehenden 1960er Jahren mit erstaunlich viel Energie gestritten – diese Zeiten scheinen endgültig vorbei zu sein.
Schön wäre es aber trotzdem, würden im Studium die großen juristischen Fragen in einer vorsichtigen und freundlichen Methodik mit ihrer sozialen, insbesondere ökonomischen, politischen und kulturellen Umwelt in Verbindung gebracht, wie es Dubischar mit seiner nach wie vor lesenswerten Sammlung von Prozessgeschichten tat – zumindest exemplarisch und nicht examensrelevant.
Mittlere Art und Güte: zwischen Hochfeuilleton und erweiterter Fallerzählung
Ungefähr zwischen der Erzählfreude eines Herrmann Mostar und der eher wissenschaftlichen Form Roland Dubischars finden sich die "Blumen vor Gericht" von Christoph Schmitz-Scholemann (1949–). Schmitz-Scholemann, vormals Richter am Bundesarbeitsgericht, veröffentlichte neben juristischen Fachbeiträgen eine Vielzahl von Werken, Poesie wie Prosa.
Sein Buch "Blumen vor Gericht" bietet eine Sammlung von Essays, kurzen wie längeren Formen, die sich insbesondere um Fragen der Zensur ranken. Angesprochen werden dabei etwa Jahrtausendprozesse wie der Fall Giordano Bruno (1548–1600), der als Pantheist und Leugner der Dreifaltigkeit Gottes auf einem römischen Scheiterhaufen endete, ein auch in Deutschland lange Zeit todeswürdiges Verbrechen.
Wie Johann Wolfgang Goethes "Clavigo" und Mozarts "Figaros Hochzeit" mit einem Skandalprozess des 18. Jahrhunderts in Paris zusammenhingen, wird deutlich.
Schmitz-Scholemann erinnert aber auch an ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein entrückte Prozesse um die Freiheit der Rede in Deutschland. Franz Mai (1911–1999), der in den Jahren 1958 bis 1977 als erster Intendant den Saarländischen Rundfunk leitete, entließ im Jahr 1971 unter recht dramatischen Umständen den Literaturredakteur Anfried Astel (1933–2018) wegen der Verbreitung missliebiger politischer Lyrik und "ungenehmigter Nebentätigkeiten – in Gestalt von ungenehmigten Dichterlesungen in einer Jugendstrafanstalt".
Astel prozessierte, obwohl ihm – wie Schmitz-Scholemann festhält – "als jungem Vater wirtschaftlich das Wasser bis zum Hals stand", und lehnte alle Vergleichsangebote ab. Das Bundesarbeitsgericht entschied mit Urteil vom 7. Dezember 1972 zu seinen Gunsten (Az. 2 AZR 235/72).
Drei Formen, juristische Dinge zu popularisieren
In den Gründerjahren der Bundesrepublik wurde eine populäre Form, im Rundfunk juristische Sachverhalte zu verarbeiten, noch mit einem Bildungsauftrag verbunden, wie sich mit Herrmann Mostar belegen lässt. Roland Dubischar zeigte, wie man juristisches Fachwissen elegant mit Kenntnissen zur Zeitgeschichte verbinden kann, Christoph Schmitz-Scholemann, dass ein juristisches Feuilleton, das auf zeitkritische Elemente nicht verzichtet, spannend bleibt.
Soll die öffentliche Meinung zum Justizbetrieb nicht weiter zum Beispiel durch "Tatort"-Klischees deformiert werden, wäre aus diesem Formbewusstsein zu lernen.
Hinweise: Christoph Schmitz-Scholemanns "Blumen vor Gericht", Coesfeld (Elsinor) erschien 2022. Roland Dubischars "Prozesse, die Geschichte machten" wurde 1997 von C.H. Beck herausgebracht und ist antiquarisch relativ rar. Herrmann Mostars Werke sind in den 1950er und 1960er Jahren in hohen Auflagen erschienen und in Antiquariaten recht gut verfügbar.
Liebe und Blumen vor Gericht: . In: Legal Tribune Online, 13.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55613 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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