BVerfG zur Vorlagepflicht deutscher Gerichte: Keine Aus­lie­fe­rung ohne den EuGH

11.01.2018

Der EuGH ist die erste Adresse, wenn es um die Auslegung von Unionsrecht geht. Und wenn er noch nicht präzise genug ausgelegt hat, müssen Gerichte ihn dazu befragen. Das hat das BVerfG im Fall einer Auslieferung entschieden. 

Werden deutsche Gerichte vor unionsrechtliche Fragen gestellt, die noch nicht abschließend geklärt sind, so ist Vorsicht geboten: Eigenständig dürfen sie das EU-Recht nicht fortbilden, betont das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einer nun bekannt gewordenen Entscheidung (Beschl. v. 19.12.2017, Az. 2 BvR 424/17). Anlass waren ein Auslieferungsersuchen aus Rumänien und die Beurteilung der dortigen Haftbedingungen.

Der Mann, um dessen Auslieferung es ging, verbüßte noch bis zum 24. September vergangenen Jahres wegen mehrerer in Deutschland begangener Straftaten eine Haftstrafe in Hamburg. Unterdessen lag bereits ein Auslieferungsersuchen aus Rumänien vor, wo man wegen des Verdachts der Begehung von Vermögens- und Urkundsdelikten gegen ihn ermittelte.

Das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) bewilligte schließlich die Auslieferung, da nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) klar gestellt sei, dass die Mitgliedstaaten zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verpflichtet seien. Ausnahmen gebe es nur bei außergewöhnlichen Umständen, die das Gericht in dem Fall offenbar nicht erkannte.

Über Auslegung von Unionsrecht entscheidet der EuGH 

Die gegen die Bewilligung der Auslieferung gerichtete Verfassungsbeschwerde nahm das BVerfG zum Anlass, grundsätzlich zu erklären, wer im Zweifel über die Auslegung von Unionsrecht zu entscheiden hat: der EuGH. 

Das OLG hatte sich zwar zunächst auf die Rechtsprechung des EuGH betreffend die Behandlung von Auslieferungsersuchen gestützt, war aber nach Ansicht des BVerfG ohne ausreichende Rückversicherung darüber hinaus gegangen. Die Verfassungsrichter gehen davon aus, dass der EuGH die Mindestanforderungen an Haftbedingungen nach der Grundrechte-Charta (GRCh) noch nicht so präzisiert hat, dass auf dieser Grundlage die nun gefällte Auslieferungsentscheidung zu begründen wäre.

Art. 4 GRCh untersagt sowohl Folter als auch unmenschliche oder erniedrigende Strafen oder Behandlungen. Karlsruhe bezweifelt offenbar, dass dieses Gebot in Rumänien derzeit eingehalten wird. So unterschritten die von den rumänischen Behörden zugesicherten mindestens zwei Quadratmeter persönlicher Raum im Vollzug die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für einen konventionsrechtskonformen Strafvollzug als Mindestmaß festgelegten drei Quadratmeter. 

Beurteilungsspielraum "in unvertretbarer Weise überschritten"

Unter welchen Gesichtspunkten Haftbedingungen aber nach Unionsrecht genau als unmenschlich einzustufen seinen und wie dies ggf. kompensiert werden könne, hat der EuGH nach Ansicht der Verfassungsrichter noch nicht ausreichend geklärt. Die gewöhnlich erforderlichen Bedingungen für eine Kompensation des zu geringen Haftraums habe das OLG  überhaupt nicht geprüft, sondern vielmehr eigene Kriterien herangezogen, die bisher so nicht verwendet worden seien, so das BVerfG.

Das OLG hatte u. a. die Verbesserung der baulichen Anlagen im Hinblick auf Heizung, sanitäre Anlagen und Hygiene sowie mögliche Hafturlaube, den Empfang von Besuch, das Waschen privater Wäsche und die Möglichkeit zum Einkauf persönlicher Dinge herangezogen. Außerdem hatte man mit der Funktionsfähigkeit der europäischen Strafrechtspflege argumentiert und damit, dass bei zu strenger Beurteilung ausländischer Haftbedingungen Deutschland zu einem "safe haven" für Straftäter in Europa werden könnte.

Solche Kriterien seien von EuGH und EGMR bisher kaum herangezogen worden, so das BVerfG. Angesichts der bestehenden Unsicherheiten hätte man die Frage aber dem EuGH vorlegen müssen. Da dies nicht geschehen sei, habe das OLG "den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen im Hinblick auf seine Vorlagepflicht in unvertretbarer Weise überschritten". Dies begründe einen Verstoß gegen das Grundrecht auf einen gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG).

mam/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

BVerfG zur Vorlagepflicht deutscher Gerichte: . In: Legal Tribune Online, 11.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26415 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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