Dass ein Wahlkreissieger nicht in den Bundestag einzieht, wirkt zunächst befremdlich. Doch das BVerfG hat gute Argumente für die Verfassungsmäßigkeit der neuen Regel, die den Bundestag endlich verkleinert, meint Felix W. Zimmermann.
Wenn die Saaldienerin mit sehr lauter und sehr bestimmter Stimme "das Bundesverfassungsgericht" ankündigt, geht normalerweise der Puls hoch: Das Gefühl der Ehrfucht vor der Autorität des höchsten deutschen Gerichts stellt sich ein und alle sind aufgeregt – erst recht, wenn eine wichtige Entscheidung ansteht, die direkten Einfluss auf die Demokratie in Deutschland hat.
Doch anders heute. Durch einen Fauxpas erster Güte war das Urteil schon am Vorabend auf einer Internetseite des Bundesverfassungsgerichts zu finden. Für das Ansehen des Gerichts mindestens peinlich und auch weiter erklärungsbedürftig.
Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Wahlrechtsreform stärkt hingegen dessen Ansehen. Es ist verständlich und geradlinig. Es ist differenziert. Es ist aber auch im guten Sinne ergebnisorientiert: Das Gericht hat in "unangefochtener Einsicht", dass es kein perfektes Wahlsystem gibt, den Weg für einen kleineren Bundestag freigemacht.
“Verwaiste” Wahlkreis ist für das BVerfG Framing
Für das Gericht ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass zukünftig nicht mehr alle Wahlkreise einen Sieger nach Berlin schicken. Dazu führt es zahlreiche überzeugende Argumente an. Interessant vor allem die Ansicht, es sei "verfehlt", Wahlkreisabgeordnete als Delegierte ihres Wahlkreises anzusehen. Schließlich seien alle Abgeordneten gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) Vertreter des ganzen Volkes und dabei keinem Auftrag, sondern allein ihrem Gewissen unterworfen. Die Bezeichnung des "verwaisten" Wahlkreises – für einen Wahlkreis ohne Direktkandidaten im Bundestag – ist für das BVerfG vor diesem Hintergrund ein Framing, das von den Wertungen des Grundgesetzes nicht gedeckt ist.
Überzeugend ist auch die Argumentation, mit der der Zweite Senat eine strikte und pauschale Fünf-Prozent-Hürde ohne Grundmandatsklausel für verfassungswidrig erklärte. Nach dieser Klausel kommt eine Partei auch dann in den Bundestag, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen auf sich vereint, aber mindestens drei Direktmandate erringt. Für die CSU darf das nicht sein, für die Linkspartei schon, ist dem Urteil des BVerfG zu entnehmen.
Sieht wie Urteil extra für die CSU aus, ist es aber nicht
Was auf den ersten Blick als iudicium-CSU erscheint, folgt einer klaren und bestechenden Logik. Die Fünf-Prozent-Hürde soll einer Zersplitterung des Parlaments vorbeugen. Denn Regierungsbildung wird in diesen Fällen schwieriger und kann im Extremfall die für eine Demokratie notwendigen Prozesse der Koordination, Kooperation und Kompromissbildung unmöglich machen. Die CSU trägt aber nicht zu Zersplitterung des Parlaments bei, wenn sie – wie bisher – stets eine Fraktionsgemeinschaft mit der CDU und mit dieser eingeht. Dabei nannte der Senat als ein Kriterium auch den fehlenden Wettbewerb zwischen den Parteien, ließ aber offen, ob es hierauf entscheidend ankommt.
Man kann den heutigen Tag schwarzmalen und wie Rechtsprofessor Michael Kubiciel an diesem Tag lauter Verlierer erkennen. Man kann aber auch lauter Sieger sehen. Zunächst die Ampelparteien, die uneigennützig ein Gesetz auf den Weg gebracht haben, das sie selbst zahlreiche Abgeordnete kosten wird. Ihnen ist es zu verdanken, dass der Bundestag nicht weiter das drittgrößte Parlament der Welt ist. Doch die Ampel wurde auf den letzten Metern übermütig und wollte offenbar auch den politischen Gegnern, der CSU und der Linkspartei, schaden, auch wenn natürlich die offizielle Begründung dogmatischer Natur war. Das ist ihr mit Ansage auf die Füße gefallen: Das BVerfG hat die Grundmandateklausel als Zwischenlösung wieder eingesetzt.
Die CSU kann aufatmen, die Linkspartei zumindest für die nächste Bundestagswahl. Danach wäre theoretisch ein Gesetz denkbar, nach der sie im Gegensatz zur CSU mangels Fraktionsgemeinschaft aus dem Bundestag hinausgeregelt werden kann. Und auch die CDU ist Sieger, denn nur in der Fraktionsgemeinschaft besteht der besondere Schutz der CSU. Bayerische Alleingänge und die wiederkehrende Drohung, bundesweist selbst anzutreten, wird sich die CSU in Zukunft zweimal überlegen. Siegreich waren aber auch Bürgerinnen und Bürger, die mit Hilfe des Vereins "Mehr Demokratie” erfolgreich Verfassungsbeschwerde gegen die Sperrklausel in ihrer aktuellen Fassung eingelegt haben.
Und zu guter Letzt das BVerfG, das mit dem überzeugenden Urteil den Fauxpas vom Vorabend fast vergessen macht.
Bundesverfassungsgericht ermöglicht kleineren Bundestag: . In: Legal Tribune Online, 30.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55112 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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