Sozialgerichte sollen entlastet werden: Eine Gebühr für "Viel­kläger"?

Interview von Tanja Podolski

17.11.2020

Bisher müssen Kläger an den Sozialgerichten meist keine Prozesskosten tragen. Hessen will das für "Vielkläger" ändern, um Missbrauch zu vermeiden. BSG-Präsident Rainer Schlegel im Interview über Sinn und Unsinn der Initiative.

LTO: Herr Professor Schlegel, das Land Hessen hat eine Gesetzesinitiative in den Bundesrat eingebracht, mit der für bisher gerichtskostenfreie Verfahren am Sozialgericht (SG) eine Gebühr fällig werden soll. Was ist da los?

Prof. Dr. Rainer Schlegel: Dem Land Hessen geht es um eine besondere Verfahrensgebühr für sogenannte Vielkläger in sozialgerichtlichen Verfahren. Für diesen Personenkreis soll ab einer bestimmten Anzahl von Verfahren - ab dem zehnten Verfahren innerhalb von zehn Jahren - der Grundsatz der Kostenfreiheit des Gerichtsverfahrens teilweise eingeschränkt werden. 

Zur Begründung hat Hessen ausgeführt, dass sich in der Sozialgerichtsbarkeit Fälle häufen, in denen einzelne Kläger ohne berechtigtes Rechtsschutzinteresse mit vielen, oftmals aussichtslosen Verfahren die Gerichte beschäftigen - und zwar teilweise wiederholt durch alle Instanzen. 

Ein eindrucksvolles und anschauliches Beispiel, um welche Personengruppe es geht, zeigt eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG, Urt. v. 12.02.2015, Az. B 10 ÜG 8/14 B), an der ich selbst mitgewirkt habe. In dem Fall hat ein Strafgefangener allein im Jahr 2014 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in 138 Verfahren Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer beantragt, pro Verfahren wollte er 1.200 Euro, insgesamt also 165.600 Euro. Das LSG hatte die Klagen ohne ordentliches Verfahren als "haltlos" und "rechtsmissbräuchlich" angesehen und die Verfahren ohne weitere Bearbeitung ausgetragen. Am BSG haben wir diese Entscheidung aufheben müssen. Das zeigt auch, dass den Gerichten gerade im Umgang mit solchen Klägern leider formelle Fehler unterlaufen. Zuvor hatte es derselbe Kläger von 2005 bis 2012 geschafft, das SG Karlsruhe mit ca. 660, das LSG Baden-Württemberg mit 1240 und das Bundessozialgericht immerhin noch mit 260 Verfahren zu beschäftigten - gerichtskostenfrei.

Das ist aber kein Empfehlungsschreiben für die Sozialgerichtsbarkeit: Wieso sollte ein Gesetzentwurf die Klägerrechte einschränken, nur weil Richter keine Lust haben, sich in gewohnter Qualität auch mit durchaus fragwürdigen Anliegen zu befassen? 

Das Problem der Vielkläger sind nicht die Richter. In Einzelfällen mögen denen Fehler unterlaufen und die Kläger sich dann ungerecht behandelt fühlen. Das ist aber nicht der Regelfall. Es geht vielmehr um das Spannungsverhältnis zwischen niedrigschwelligem Rechtsschutz und der Abwehr missbräuchlicher Inanspruchnahme der Sozialgerichte. Da muss ein angemessener Ausgleich gefunden werden. 

Denn auch für Richterinnen und Richter ist es frustrierend, immer und immer wieder mit demselben haltlosen Vorbringen in verschieden Variationen konfrontiert zu werden. Denn das Vorbringen muss in einem formal korrekten Verfahren ordnungsgemäß beschieden werden, sei es auch noch so unsinnig und aussichtlos, ganz abgesehen von unverschämtem und beleidigendem Prozessverhalten. Dies im Wissen, dass das nächste Verfahren bereits einen Eingangsstempel erhalten hat.

"Keine Gerichtskosten auch bei verlorenem Prozess"

Niedrigschwelliger Rechtsschutz heißt, dass für Klagen in der Sozialgerichtsbarkeit derzeit keine Gerichtsgebühren erhoben werden?

Ja. Wenn Versicherte und Leistungsempfänger in dieser Eigenschaft klagen, sind die Verfahren in allen drei Instanzen kostenfrei, so § 183 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Dieser Personenkreis kann ohne Kostenvorschuss z.B. eine Klage auf Krankenbehandlung, höhere Rente oder Grundsicherung führen, eine Prozessniederlage ändert daran nichts. Die Idee dahinter ist, dass Bürger ihre sozialen Rechte ohne Sorge um die Kostenlast auch gerichtlich durchsetzen können sollen. 

Das gilt nur dann nicht, wenn eine Vertagung oder Neuanberaumung des Termins durch das Verschulden des Klägers nötig wurde oder der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl der Vorsitzende ihm dargelegt hat, dass dies missbräuchlich ist und ihm daher die Kosten auferlegt werden könnten. 

Diese sog. Missbrauchsgebühr oder Verschuldenskosten sind aber ein stumpfes Schwert. Denn erstens können die Verschuldenskosten im Regelfall erst mit dem Urteil auferlegt werden, also wenn die Arbeit getan und der Prozess zu Ende ist. Zweitens bestehen formelle Hürden in Form von vorheriger Hinweispflicht und drittens können auferlegte Verschuldenskosten bei vielen Beteiligten, u.a. bei Grundsicherungsempfängern, regelmäßig nicht beigetrieben werden, so dass weiterer vergeblicher Verwaltungsaufwand entsteht.

Und diesen Grundsatz der Kostenfreiheit will Hessen nun beschränken?

Auch Hessen will bei der grundsätzlichen Kostenfreiheit bleiben. Nur für die Vielkläger soll der Grundsatz ab einer bestimmten Schwelle eingeschränkt werden. Als Vielkläger gelten in dem Entwurf Personen ab ihrer zehnten Streitsache in den vergangenen zehn Jahren innerhalb eines Landes. Diese Personen sollen je Instanz eine besondere Verfahrensgebühr von 30 Euro zahlen müssen, die nicht prozesskostenhilfefähig sein soll. 

Zahlen die Kläger die Gebühr nicht, soll das Verfahren nicht weiter betrieben werden, nach drei Monaten ohne Zahlung soll die Klage oder das Rechtsmittel als zurückgenommen gelten. Dann entfällt auch die Zahlungspflicht.

"Ein Prozent der Kläger führt 20 Prozent aller Verfahren"

Wie kommt das Land auf diese Idee?

Hessen nennt im Gesetzentwurf Zahlen zu Vielklägern: Danach entfielen von insgesamt 29.718 in der Zeit vom 1. Januar 2010 bis 31. Dezember 2019 beim LSG Darmstadt eingegangenen Verfahren 5.843 Verfahren auf gerade einmal 140 kostenprivilegierte Kläger, die in diesen zehn Jahren jeweils zehn oder mehr Verfahren angestrengt hatten. 

Prof. Dr. Rainer SchlegelDiese Vielkläger machen nicht einmal ein Prozent aller Kläger aus, verursachen aber 20 Prozent aller Verfahren vor dem LSG Darmstadt. Zudem gibt es einen ganz speziellen Kläger, der allein im Jahr 2019 250 Verfahren vor dem LSG angestrengt hat. In der Sache war die überwiegende Zahl dieser Klagen erfolglos. 

In der Grenzziehung "zehn Verfahren in zehn Jahren" liegt aber auch gleichzeitig einer der Kritikpunkte an dem Entwurf. Außerdem liegen nur die Zahlen aus Hessen vor. Wichtig und für die weitere Diskussion hilfreich wäre es, die Zahl von Vielklägern und ihr Klageverhalten über einen längeren Zeitraum für sämtliche der 67 Sozialgerichte und aller 14 Landessozialgerichte sowie des BSG zu erheben. Außerdem müssten der damit verbundene Personalaufwand sowie die dadurch verursachten Kosten plausibel geschätzt werden. So eine bundesweite Erhebung dazu gibt es meines Wissens nach bisher nicht.

Da alle Gerichte ihre Zahlen auch für die vergangenen zehn Jahre vorliegen haben, wäre es zwar ein gewisser Aufwand, diese aufzubereiten - es wäre aber ohne weiteres möglich. 

Was würde die Umsetzung des Gesetzentwurfs den Sozialgerichten bringen?

Der hessische Vorschlag ist ein Stoppschild für eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Klägern, die den Gerichten - Richterinnen und Richtern wie auch den Geschäftsstellen - unverhältnismäßig viel Arbeit bereiten, ohne dass an den allermeisten Verfahren dieser Gruppe etwas dran ist. Der Vorschlag erscheint mir durchaus geeignet, querulatorische Vielkläger von einer unnötigen oder missbräuchlichen Inanspruchnahme der Sozialgerichte abzuhalten. Denn diese sind in der Regel nicht bereit, für ihr "Hobby" zu zahlen. Das zeigen auch die Erfahrungen aus den Verfahren wegen überlanger Verfahrensdauer. 

Kläger mit einem ernsthaften Anliegen werden sich durch eine geringe Gebühr von 30 Euro kaum abhalten lassen, von ihren Rechten Gebrauch zu machen. Der Höhe nach scheinen 30 Euro sogar für Grundsicherungsempfänger im Regelfall noch tragbar. Und für Ausnahmefälle sieht auch der hessische Entwurf eine Regelung vor: Der Richter soll auch künftig von der Gebührenerhebung absehen, "wenn dies zur Gewährung von Rechtsschutz geboten ist", heißt es in dem Entwurf. Durch eine Anforderung des Vorschusses erst ab der zehnten Streitsache wird auch der Bürokratieaufwand für die Geschäftsstellen begrenzt.

"Richter fehlen bei berechtigten Anliegen"

An welcher Stelle ist der Entwurf denn noch kritikwürdig?

Die Initiative Hessens hat ein legitimes Ziel, denn der gerichtliche Rechtsschutz ist ein hohes Gut. Die personellen Ressourcen, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, sind aber begrenzt. Es ist Sache des Sozial- und des Steuerstaates, die begrenzte Ressource Rechtsschutz so einzusetzen, dass ein soziales Ungleichgewicht unter den Rechtsschutzsuchenden vermieden wird. Denn die Zeit, die Richterinnen und Richter für die Bearbeitung querulatorischer Verfahren benötigen, fehlt ihnen dort, wo es um ernsthafte und berechtige Anliegen geht. 

Die Schwierigkeit wird sein, querulatorische von ernsthaften und berechtigten Anliegen zu unterscheiden. Das macht es erforderlich, sich die Fälle anzusehen. Was natürlich nicht ginge, wäre, das Vorbringen bestimmter, "gerichtsbekannter" Personen von vornherein einfach zu ignorieren.

Außerdem ist der Rechtsschutz verfassungsrechtlich verbürgt. Für die Prozessgebühr allein auf die Anzahl von neun Verfahren in zehn Jahren abzustellen, ohne den Erfolg oder die Erfolgsaussichten des zehnten Verfahrens zu berücksichtigen, halte ich am hessischen Entwurf für bedenklich. Denn was gilt, wenn die neun vorherigen Verfahren überwiegend erfolgreich waren? 

Vorstellbar ist das insbesondere bei Hartz-IV-Klagen auf Leistung, in diesem Bereich werden tatsächlich viele Bescheide von den Gerichten aufgehoben. Wäre Hessens Vorschlag nicht eine Beschränkung des Rechtsweges für die Schwächsten?

In der Tat wird an den Fällen zur Grundsicherung deutlich, dass die von Hessen angedachte Lösung zu pauschal ist. Gerade bei längerem Leistungsbezug ergehen zwangsläufig mehrere Bescheide, weil immer nur für bestimmte Zeiträume Leistungen bewilligt werden. Es werden dann immer wieder Streitigkeiten um dasselbe Problem geführt. Da kommen - ohne dass dies zwangsläufig missbräuchlich oder querulatorisch sein müsste - schnell zehn Verfahren in wenigen Jahren zusammen, etwa wenn es um die Kosten der Unterkunft geht. 

Das Gericht muss deshalb meiner Ansicht nach die Gebührenschuld aufheben können, wenn dies zur Gewährung von Rechtsschutz geboten ist oder - so der schleswig-holsteinische Alternativvorschlag – "wenn dies im Einzelfall zur Gewährung von effektivem Rechtsschutz zwingend erforderlich ist." 

Dies ist natürlich sehr unbestimmt und nur dann effektiv, wenn diese Entscheidung nicht mehr mit weiteren Rechtsmitteln angegriffen werden kann. Ebenso macht es wenig Sinn, wenn nachträglich durch Urteil oder Gerichtsbescheid entschieden werden muss, ob die Klage infolge Nichteinzahlung der Gebühr als zurückgenommen gilt, und diese Entscheidung wiederum anfechtbar ist.

Welche konkreten Änderungen wünschen Sie sich noch an dem Entwurf? 

Der hessische Entwurf ist ein tragfähiger Ausgangspunkt für die Diskussion um eine Begrenzung der Gerichtskostenfreiheit für Vielkläger. Eine interessante Modifizierung könnte ein Vorschuss auf die Missbrauchs- oder Verschuldensgebühr sein. Das Gericht müsste berechtigt sein, nach seinem Ermessen einen Vorschuss auf die Missbrauchs- oder Verschuldensgebühr nach § 192 I 1 Nr. 2 SGG zu erheben. Vorbilder hierfür gibt es bereits in den Verfassungsgerichtsgesetzen einiger Länder. Das Gericht sollte den Vorschuss insbesondere anfordern dürfen, wenn bereits einmal eine Missbrauchsgebühre verhängt und nicht gezahlt wurde oder wenn mehrfach trotz Hinweis auf fehlende Erfolgsaussichten Verfahren fortgeführt wurden oder wenn bei einer Vielzahl von Verfahren anhand der Darlegungen keine Erfolgsaussichten erkennbar sind.

Diese Ermessensentscheidung des Gerichts müsste unanfechtbar sein. Und bei Nichteinzahlung sollte - wie im hessischen Entwurf - keine Bearbeitung mehr erfolgen sowie nach drei Monaten die Rücknahme des Rechtsmittels fingiert werden. Wer dann doch keine Ruhe gibt, muss die Gerichtsgebühr bezahlen. Ist die Klage dann erfolgreich, gibt es das Geld zurück. 

Dem hessischen Entwurf ist jedenfalls zu wünschen, dass er zu einer sachlichen Diskussion führt und nicht nach der Manier Pawlow'scher Hunde weggebissen wird, nur weil über eine marginale Einschränkung der Gerichtskostenfreiheit im sozialgerichtlichen Verfahren diskutiert wird. 

Herr Professor Schlegel, vielen Dank für das Gespräch.

Professor Dr. Rainer Schlegel ist seit Oktober 2016 Präsident des Bundessozialgerichts. 

Schlegel diskutiert den Entwurf mit Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann und Expertinnen und Experten aus Politik, Praxis, Verbänden und Verwaltung am Mittwoch, 18. November 2020, 9.30 bis 11 Uhr, in einer Video-/Telefonschalte. Die Diskussion ist öffentlich. Zugangsdaten für Webex sind bei Pressestelle@hmdj.hessen.de erhältlich.

Zitiervorschlag

Sozialgerichte sollen entlastet werden: . In: Legal Tribune Online, 17.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43444 (abgerufen am: 18.11.2024 )

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