Kräftemessen von Politik und Gerichten: Ein Jus­tiz­putsch in der Türkei?

von Marion Sendker

29.11.2023

Ein Gericht in der Türkei ignoriert das Urteil des Verfassungsgerichts und die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Verfassungsrichter. Es geht um einen inhaftierten Anwalt und Abgeordneten. Droht die Entmachtung des Verfassungsgerichts?

Normalerweise wird das Thema Rechtstaatlichkeit bei jedem Treffen türkischer und deutscher Regierungsmitglieder zumindest kurz angesprochen. Als der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan aber vor gut einer Woche nach Berlin kam, ignorierte Bundekanzler Olaf Scholz das Thema komplett. Dabei gab es in den vergangenen Jahren wohl kaum einen so konkreten Anlass, um über den Zerfall der türkischen Rechtstaatlichkeit zu sprechen wie jetzt.

Anfang November hatte die 3. Kammer des Obersten Berufungsgerichts für Strafsachen, Yargitay, verkündet, ein Urteil des Verfassungsgerichts nicht anzuerkennen. Und sie hatte Strafanzeige gegen neun Verfassungsrichter eingereicht, die das Urteil unterzeichnet hatten. "Das Verfassungsgericht hat seine Befugnisse überschritten", steht in dem Schreiben der untergeordneten Instanz. Seit ein paar Tagen ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft gegen neun der 15 Verfassungsrichter. Der Vorwurf: Rechtsbeugung. Das Verfassungsgericht hatte Ende Oktober einem in Untersuchungshaft sitzenden Abgeordneten parlamentarische Immunität zugeschrieben und seine sofortige Freilassung gefordert. Aus Sicht der Berufungsrichter ist die Entscheidung verfassungswidrig. Ein beispielloser Fall. Was steckt dahinter?

Enden die Ermittlungen gegen Verfassungsrichter in einer Sackgasse?

"Ich weiß nicht, was da rauskommen soll, es macht keinen Sinn", wundert sich der Istanbuler Anwalt Cem Murat Sofuoğlu. Er vertritt unter anderem religiöse Minderheiten wie das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel und den armenischen Katholikos in Streitigkeiten mit der Regierung, war Vorsitzender der EU-Rechtskommission der Istanbuler Anwaltskammer und setzt sich seit Jahren über Verbände wie die Türkei-Stiftung für Wirtschafts- und Sozialstudien (TESEV) für mehr Demokratie und Rechtssicherheit im Land ein. In seiner Arbeit geht es oft darum, Ansprüche, die sich aus der Verfassung ableiten, durchzusetzen. So argumentierte er bereits vor dem Europäischen Gericht für Menschenrechte und mehrfach vor dem Verfassungsgericht. Er kennt die Vorschriften gut und verweist in dem aktuellen Fall auf die Regeln des Verfassungsgerichts. "Demnach braucht es für die Einleitung einer Untersuchung der Richter die Genehmigung der fünfzehnköpfigen Generalversammlung des Verfassungsgerichts", erklärt Sofuoğlu mit Verweis auf Art. 16 Abs. 1 Gesetz über die Einrichtung des Verfassungsgerichts und Prozessverfahren (Gesetz Nr. 6216).

Für eine abschließende Entscheidung braucht es eine Zweidrittelmehrheit. Diese Voraussetzung wird in dem aktuellen Fall aber zum Kuriosum. "Zehn Richter müssten also entscheiden, dass neun von ihnen ihre Befugnisse überschritten haben", so der Anwalt. "Das entbehrt jeder Logik, denn sie können ja nicht über sich selbst urteilen. Das Verfahren stecke in einer Sackgasse. "Ich bin sehr gespannt, was am Ende im Ermittlungsbericht des Staatsanwalts stehen soll." Sofuoğlu verweist auf Artikel 153 der türkischen Verfassung: Demnach sind Entscheidungen des Verfassungsgerichts endgültig (Absatz 1) und binden die gesetzgebenden, exekutiven und judikativen Organe sowie die Verwaltungsbehörden und natürliche, wie juristische Personen (Absatz 6).

Der Vorgang rief auch die Anwaltschaft auf den Plan. Die Istanbuler Anwaltskammer protestierte gegen das Vorgehen und reichte am 1. November ebenfalls Klage ein: gegen den Präsidenten und die Mitglieder der 3. Strafkammer des Obersten Berufungsgerichts. Die Vorwürfe lauten etwa "Freiheitsbeschränkung", weil der Abgeordnete noch immer im Gefängnis sitzt und "Amtsmissbrauch". Mehrere tausend Anwälte unterstützen das Verfahren per Unterschriftenliste. Die Anzeige dürfte aber vor allem Symbolcharakter haben:

Sie wurde beim Ersten Präsidialausschuss des Obersten Berufungsgerichts eingereicht, also bei der Behörde, aus der Mitglieder sich gerade gegen das Verfassungsgericht erheben. Auch bei diesem Schritt scheinen die Erfolgsaussichten sehr fraglich. Eine Stellungnahme der Anwälte richtete sich auch gegen "die politische Macht": "Hören Sie auf, sich in die Justiz einzumischen", schrieben die Anwälte.

Wie ein Abgeordneter in den Machtkampf von Politik und Justiz gezerrt wird

Das Kräftemessen von Politik, Justiz und Anwaltschaft begann mit dem Fall des Politikers der Arbeiterpartei (TİP), Can Atalay. Er war bei den Parlamentswahlen am 14. Mai als Abgeordneter gewählt worden. Atalay ist selbst Anwalt und vertrat Mandanten in politisch brisanten Fällen. Einer davon war die Bewegung "Taksim-Solidarität", die sich 2013 gegen den Versuch einsetzte, im Istanbuler Gezi-Park ein Einkaufszentrum zu bauen. Der Protest gipfelte in einem landesweiten Aufstand von Millionen Türken gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan.

Im April 2022 wurde Atalay vom 13. Schwurgericht in Istanbul wegen "versuchten Sturzes der Regierung" zu 18 Jahren Haft verurteilt. Eineinhalb Jahre später bestätigte das Oberste Berufungsgericht die Entscheidung. Zum Zeitpunkt der Wahl war das Urteil gegen ihn aber noch nicht rechtskräftig. Laut Artikel 83 Abs. 1 Verfassung erlangt er deswegen Immunität und wäre vor Strafverfolgung grundsätzlich geschützt.

Darauf stützte Atalay seinen Antrag bei der 3. Strafkammer des Kassationsgerichts, zuständig für seine Berufung. Die lehnte seine Forderung nach Freilassung einstimmig ab. Wenig später wies auch die 4. Strafkammer einen Einspruch gegen diese Entscheidung mehrheitlich ab. Atalays Anwälte reichten Mitte Juli Klage beim Verfassungsgericht ein. Sie argumentierten, dass sein Recht auf ein faires Verfahren sowie sein Recht, sich zur Wahl zu stellen, gewählt zu werden und sich an politischen Aktivitäten zu beteiligen, verletzt worden seien. Am 13. Oktober sollte das Verfassungsgericht entscheiden, doch die Beratungen wurden um knapp zwei Wochen verlegt. Das Urteil erging mit Datum vom 25. Oktober und wurde an das 13. Istanbuler Schwurgericht zurückgeschickt. Das bat wiederum die 3. Strafkammer am Kassationsgericht um eine neue Rechtseinschätzung und verzögerte die Umsetzung des Richterspruchs. "Schon allein dieses Prozedere ist nicht üblich und fraglich", findet der Anwalt Sofuoğlu. Die 3. Strafkammer hätte die Akte zurücksenden müssen, da nach Strafverfahrensregeln und dem Verfassungsgerichtsurteil das 13. Schwurgericht für die Durchführung eines Wiederaufnahmeverfahrens befugt sei – und nicht das Berufungsgericht. Darauf verweist auch die Istanbuler Anwaltschaft in ihrer Klageschrift.

Und es gibt noch mehr Ungereimtheiten: Das Schreiben des Schwurgerichts war auf den 13. Oktober datiert. Das Urteil des Verfassungsgerichts fiel jedoch erst danach. Wurde bereits vorsorglich ein Vorgehen gegen das Verfassungsgericht vorbereitet? Der Jurist Sofuoğlu möchte das nicht einschätzen müssen: "Das klingt nach einer politischen Frage, ich kann mich nur juristisch äußern."

All das zeigt, dass der Politiker wohl zum Kollateralschaden eines grundsätzlichen Machtkampfs im schwer zu durchschauenden Geflecht aus türkischer Justiz und Politik geworden ist. Das Gezerre um den Politiker, der noch immer in Untersuchungshaft sitzt, wirkt wie ein vorgeschobenes Argument, um Unruhe zu stiften und die Legitimität der höchsten Landesrichter infrage zu stellen. Das Verfassungsgericht hat zuletzt mehrfach Urteile gefällt, die der Politik erklärtermaßen nicht gefielen. Unter Juristen gilt das Gericht dagegen als verlässliche Instanz, wenn auch manche Entscheidungen als zu vage kritisiert werden. In diesem Fall war das Urteil aber ungewöhnlich eindeutig.

Erdogan: "Fehler des Verfassungsgerichts machen Regierung traurig"

Präsident Erdoğan, der in seinen bisherigen Amtszeiten bereits zehn von 15 Verfassungsrichtern selbst ernannt hatte, sagte dazu in der ersten Novemberwoche vor Journalisten: "Leider hat das Verfassungsgericht viele Fehler nacheinander begangen." Das mache die Regierung "sehr traurig". Dann griff er Partei für das Berufungsgericht, dessen Entscheidung weder aufgehoben noch verdrängt werden könne. Solche Aussagen sind nicht ungewöhnlich. Schon 2016 hatte der Präsident evident verfassungswidrig verkündet, dass er das Urteil des Verfassungsgerichts im Fall des Journalisten Can Dündar nicht akzeptiere.

Sein Regierungspartner Devlet Bahçeli, Chef der rechtsnationalistischen MHP fand kurz darauf deutlichere Worte. Der Präsident des Verfassungsgerichts sei ein "Terrorist", und: "Das Gericht muss entweder geschlossen oder umstrukturiert werden." Passend dazu hatte kurz vorher die regierungsnahe Zeitung Yeni Şafak mit Fotos der neun umstrittenen Verfassungsrichter getitelt und ihnen vorgeworfen, die "Pforte für Terroristen geöffnet" zu haben. Anders als Erdoğan spricht Bahçeli aber aus einer Position der Stärke: Die 3. Strafkammer des Obersten Berufungsgerichts ist nach Medienangaben und Bestätigungen aus ihr zugehörigen Kreisen mit Richtern besetzt, die als "Nationalisten" bezeichnet werden. Sie sollen aus dem Dunstkreis der MHP und der ihr nahestehenden Bewegung Ülkücüler kommen, die in Deutschland als "Graue Wölfe" bekannt sind. In Deutschland wird die Bewegung vom Verfassungsschutz beobachtet. Sollte in der Türkei das Verfassungsgericht jemals abgeschafft werden, wären sie die höchsten Richter im Land.

In der türkischen Gesellschaft ist es ein offenes Geheimnis, dass die Koalition aus Erdoğans AKP und Bahçelis MHP nur eine strategische ist und der Präsident sich im Zweifel nicht blind auf seinen Partner verlassen kann. Das Verfassungsgericht kann als einzige Instanz gegen Präsidenten vorgehen und dürfte deswegen für Erdoğans Zukunft eine gewisse Relevanz haben. Ohne das Gericht könnte diese Kompetenz aber der nächsthöheren Instanz zufallen, also dem Berufungsgericht. Dann hätten Richter, die nicht aus Erdoğans Umkreis kommen, über sein Schicksal zu entscheiden. Dass es solche Spekulationen überhaupt gibt, ist als Erinnerung zu lesen, dass der Präsident innenpolitisch nicht allein im Zentrum der Macht steht.

Landesweit bekannt ist auch, dass das Justizministerium von einer ganz anderen Gruppe dominiert werden soll: einer politischen Sekte. Im Hintergrund der türkischen Politik spielen solche religiösen Fraktionen eine gewichtige, aber schwer zu durchdringende Rolle. Es gibt Spekulationen, dass der aktuelle Instanzenstreit Teil eines Machtkampfs zwischen dieser Fraktion, den Nationalisten und einer Gruppe, die Erdoğan nahestehen soll, ist.

Droht die Abschaffung des Verfassungsgerichts?

Eine Abschaffung des Verfassungsgerichts sei hingegen nicht realistisch, sagt der Istanbuler Anwalt Sofuoğlu. "Das ginge nur mit einer Verfassungsänderung und dafür gibt es im Parlament keine Mehrheit." Die Regierung hat derweil schon mehrfach angekündigt, die Verfassung erneuern zu wollen. Mit Blick auf das Verfassungsgericht sprach Erdoğan zuletzt eine Änderung des Individualklagesystems an. Hier gibt es die meisten politischen Streitigkeiten. Erdoğan formulierte Mitte November vor Journalisten vorsichtig: "Es gibt derzeit 130.000 Individualklagen vor dem Verfassungsgericht. Das Ziel, die Arbeit dieser Instanz zu beschleunigen, wurde verfehlt."

Ähnlich argumentieren die rebellierenden Berufungsrichter. In einer Pressemitteilung von Anfang November heißt es etwa: "Die Individualbeschwerde ist zu einem systemischen Problem geworden, das das Justizsystem schwächt". Nun könnte der Gesetzgeber reagieren und mit einer einfachen Gesetzesreform die Möglichkeit der Individualklage einschränken, etwa auf die Befugnisse, ein Wiederaufnahmeverfahren anzuordnen, Rechtsverletzung festzustellen oder Entschädigungen zu fordern. Freilassungen wie im Fall Atalay wären dann außen vor und das Verfassungsgericht ein Stück weit entmachtet.

Eine solch einschränkende Reform dürfte aktuell aber zu viel Gegenwind aus der Gesellschaft, dem Parlament und der internationalen Gemeinschaft führen. Möglich ist also, dass der aktuelle Streit um den Abgeordneten Atalay auch ein Stimmungstest für die Regierung ist. Erdoğan machte Mitte November einen plötzlichen Rückzug und sagte, dass die Regierung in diesem Streit neutral bleibe.

Bleibt am Ende die Frage: Sollte nur einmal der Aufstand gegen das Verfassungsgericht geprobt werden? Währenddessen bleibt der Abgeordnete Atalay inhaftiert. "Irgendwann wird man sich an das Verfassungsgerichtsurteil halten müssen", vermutet der Anwalt Sofuoğlu. Einen Justizputsch oder den Versuch desselben, wie die Opposition deklariert hatte, sieht er nicht. Auswirkungen auf die juristische Praxis gebe es aber schon. Ein Mandant habe kürzlich seinen Rat, vors Verfassungsgericht zu ziehen, abgelehnt: "Er hat Angst und hat, wie viele in der Gesellschaft und der Justiz, ein Stück Vertrauen in den Rechtsstaat verloren."

Zitiervorschlag

Kräftemessen von Politik und Gerichten: . In: Legal Tribune Online, 29.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53285 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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