2/2: "Auch psychisch wirkender Zwang strafbar, eben nicht als Verbrechen"
LTO: Wie sehen solche Fälle aus?
Frommel: 2011 musste der 4. Strafsenat des BGH über folgenden Fall entscheiden: Es ging es um ein 14-jähriges Mädchen, das sich als Modell zeichnen lassen wollte und deshalb mit gespreizten Beinen und mit dem Gesicht zur Wand stand und dabei überrumpelt wurde. Sie hat ausgesagt, sie habe sich nicht gewehrt, weil sie "paralysiert" gewesen sei (BGH, Urt. v. 08.11.2011, Az. 4 StR 445/11).
Der BGH hob die Verurteilung der Vorinstanz auf, weil eine bloße Überrumpelung noch kein körperlich nötigender sexueller Übergriff sei. Hätte der vom Landgericht festgestellte Sachverhalt ergeben, dass das Mädchen lediglich aus Angst um sein körperliches Wohl still gehalten habe, wäre die Revision erfolglos geblieben. So hielten die Karlsruher Richter den vom Landgericht unklar festgestellten Fall für einen Grenzfall, den sie wie gewohnt restriktiv handhabten. Diese Rechtsprechung geht auf den BGH-Richter Thomas Fischer zurück, der seit 2000 unermüdlich gegen die Ausnutzungsvariante polemisiert, da sie in seinen Augen keine klare Tathandlung formuliere.
Diese Vorbehalte würden sowohl in der Strafrechtswissenschaft als auch in der Rechtsprechung wieder neu entfacht, wenn es zu einer kriminalpolitischen Debatte im Sinne des djb käme. Es ist auch vorhersehbar, dass Rechtsprechung und Literatur neue Wege finden würden, um das Merkmal erneut eng auszulegen. Die Erklärung dafür ist einfach: Vergewaltigung ist ein Verbrechenstatbestand. Er normiert eine Mindeststrafe von zwei Jahren Haft.
In Zweifelsfällen wird daher versucht, auf Tatbestandsseite einzuschränken.
Wer mehr Schutz für die Opfer will, sollte sich die Vergehenstatbestände anschauen wie etwa den besonders schweren Fall der Nötigung in § 240 Abs. 4 StGB. Es ist kein sinnvoller anwaltlicher Beistand, wenn Opfer-Vertreter ihren Mandantinnen auf Biegen und Brechen dazu raten, wegen Vergewaltigung anzuzeigen. Schließlich ist auch psychisch wirkender Zwang strafbar, eben nicht als Verbrechen.
"Der Ruf nach dem Gesetzgeber ist oft hilflos und wenig hilfreich"
LTO: Also alles in Ordnung, so wie es ist?
Frommel: Nicht ganz. Den Schutz Jugendlicher könnte man durchaus verbessern. Der sexuelle Missbrauch Jugendlicher nach § 182 StGB ist unsystematisch gefasst und passt nicht auf die heutige Lebenswirklichkeit. Die Norm ist auch nicht europarechtskonform, da sie 14- bis 18-Jährige nicht angemessen schützt.
LTO: Wie könnte ein verbesserter Jugendschutz aussehen?
Frommel: Bei Kindern besteht Konsens, dass sie absolut schutzwürdig sind. Nicht weil sie von sexuellen Erfahrungen "frei" zu halten sind, sondern wegen der asymmetrischen Situation, in der Erwachsene und Kinder aufeinandertreffen. Erwachsene haben ein anderes Skript von Sexualität, sie müssen sich daher völlig zurückhalten, um Kindern eine freie Entfaltung zu ermöglichen.
In den 1970-er Jahren verstand dies weder die Gesellschaft noch Gesetzgebung und Rechtsprechung und oft auch nicht die Beratung. Das hat sich gebessert.
Nur bei Jugendlichen wissen wir immer noch nicht, wie wir Manipulation und diffusen Missbrauch rechtlich behandeln sollen. Auch hier gilt die Regel, dass nur ein vernetztes Präventionskonzept hilft. Allerdings sollte hier auch strafrechtlich nachgebessert werden. Es gibt also viel zu tun, aber nicht bei § 177 StGB. Hier würde eine kritische Debatte genügen, um die Position von Thomas Fischer zu hinterfragen, die er jedes Jahr in seinem verbreiteten StGB-Kurzkommentar wiederholt. Es scheint zu wenige Frauen zu geben, welche juristische Probleme publizistisch aufgreifen. Der Ruf nach dem Gesetzgeber ist oft hilflos und wenig hilfreich.
LTO: Und was halten Sie denjenigen entgegen, die sich jetzt auf die Istanbul-Konvention berufen, die Deutschland unterzeichnet hat, also auch umsetzen muss?
Frommel: Sie ist umgesetzt. Aber das Präventionskonzept, das wir haben, wird, wie die genannten Beispiele zeigen, nicht immer verstanden. Ich wünsche mir eine bessere Ausbildung und eine offenere und pragmatischere Haltung bei denen, die beruflich mit diesen Problemen zu tun haben.
Prof. Dr. Monika Frommel (em.) war bis 2011 Direktorin des Instituts für Sanktionenrecht und Kriminologie der Christian-Albrechts-Universität in Kiel und ist Verfasserin zahlreicher Veröffentlichungen unter anderem zu kriminalpolitischen Fragen.
Reform des Sexualstrafrechts: . In: Legal Tribune Online, 13.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12882 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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