Jeder Vierte sei in einen Rechtsstreit verwickelt, hieß es im "Streitatlas 2017". Darauf kann Advocard nur kommen, weil der Versicherer jede kleinste Anfrage in die Statistik aufnimmt. Das ist nicht die einzige Ungenauigkeit, zeigt Martin W. Huff.
Als die Rechtsschutzversicherung Advocard Anfang Dezember ihren "Streitatlas 2017" veröffentlichte, sorgte die Überschrift "Jeder Vierte in Deutschland in Rechtsstreit verwickelt" für einige Aufmerksamkeit. Legten die Zahlen doch nahe, dass die Deutschen sich gerne streiten. Fragt man näher nach und prüft die veröffentlichten Daten genau, zeigt sich, dass mit dem Streitatlas 2017 wohl eher Aufmerksamkeit für die Rechtsschutzversicherung erzielt werden sollte eine sinnvolle Information der Öffentlichkeit.
Die Überschrift der Pressemitteilung der Advocard Rechtsschutzversicherung aus dem Hause der Generali-Gruppe vom 4. Dezember 2017 liest sich erschreckend: "Uneinigkeit und Recht und Sturheit: Jeder Vierte in Deutschland in Rechtsstreit verwickelt". Denn wenn diese Aussagen stimmten, wäre das Streitverhalten der Bundesbürger auf jeden Fall atemberaubend. Und es stünde allen anderen Entwicklungen, die bisher veröffentlicht wurden, entgegen.
So geht bei den Amts- und Landgerichten seit Jahren die Zahl der Neueingänge deutlich zurück, auch wenn die einzelnen Rechtsstreitigkeiten durchaus komplexer werden. Viele Rechtsanwälte berichten übereinstimmend über weniger gerichtliche Auseinandersetzungen.
Zahlen sprechen nicht für sich
Doch die Zahlen von Advocard scheinen für sich zu sprechen: 1,7 Millionen Streitfälle seien ausgewertet worden, so wird der Vorstandssprecher Peter Stahl der Advocard zitiert. Und insgesamt gebe es 25,1 Streitfälle pro 100 Einwohner im Jahr 2016.
Kann es sein, dass wirklich jeder vierte Deutsche im Jahr 2016 einen Gerichtsstreit geführt hat? Und wie berechnet der Rechtsschutzversicherer die Fälle pro Einwohner? Eine Erklärung für die Herkunft der statistischen Zahlen findet sich zunächst nicht. Weder in der Pressemitteilung noch in den "Ergebnistabellen", die dieser beigefügt sind, findet sich eine Erläuterung des Zahlenmaterials.
Die Überschrift "Rechtsstreit" sei "missverständlich", erklärt schließlich der Konzernsprecher der Generali Versicherungsgruppe auf Anfrage. Damit sein kein Rechtsstreit vor Gericht gemeint. Auch den Begriff "Streitfall" habe die Versicherung selbst definiert. Darunter seien keinesfalls Auseinandersetzungen zwischen zwei Parteien zu verstehen.
"Vielen Menschen ist nicht bewusst, wie leicht Streitigkeiten entstehen und wie lange sich solche Auseinandersetzungen hinziehen können", heißt es in der mittlerweile vorliegenden Antwort der Presseabteilung von Advocard und weiter: "Deshalb verwenden wir den Begriff Streitfall sehr viel weiter, als es die reine Juristerei tun würde. Wir verstehen Streit in diesem Zusammenhang als gesellschaftliches Phänomen und nicht als ein rein juristisches. Für uns sind Streitfälle alle uns als Rechtsschutzversicherer gemeldeten Streitigkeiten, egal ob diese im Rahmen einer Erstberatung, Mediation, einem Vergleich oder einem Gerichtsurteil etc. beendet wurden." Also wird vom Rechtsschutzversicherer jeder gemeldete "Fall" als Streitfall angesehen.
Dass schon die reine Beratung, etwa ob man streiten soll, als Streitfall angesehen wird, würde wohl auch von der Bevölkerung nicht verstanden werden. Dass der Rechtsschutzversicherer allgemein verständliche Begriffe neu besetzt, zeigt, dass die des "Streitatlas'" Zielrichtung wohl eher PR als Information der Öffentlichkeit war.
Martin W. Huff, Jede Anfrage ein Streitfall: . In: Legal Tribune Online, 27.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26199 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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