Verhindert die Schuldenbremse wichtige Investitionen in die Zukunft? Muss sie reformiert oder gar ausgesetzt werden? Nein, sagt Staatsrechtler Thorsten Ingo Schmidt und warnt davor, die Schuldenbremse weiter aufzuweichen.
LTO: Herr Prof. Schmidt, die Spitzen der Ampel haben sich auf die Grundzüge des Bundeshaushaltes 2025 verständigt. Bis zuletzt ging es dabei auch um eine Aussetzung der Schuldenbremse. Am Ende aber blieb diese unangetastet. Die geplante Neuverschuldung in Höhe von 44 Milliarden Euro soll sich im Rahmen der Schuldenbremse bewegen.
Prof. Dr. Thorsten Ingo Schmidt: Das verwundert mich nicht und ist auch vernünftig. Die Schuldenbremse ist kein Investitionshemmnis. Ihre aktuelle Ausgestaltung im Grundgesetz (GG) bietet genügend Spielräume und Ausnahmen für eine Kreditaufnahme. Allerdings postuliert Art. 109 GG eigentlich, dass die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind.
Welche Spielräume meinen Sie?
Ausdrückliche Ausnahmen vom Verbot der Neuverschuldung ergeben sich aus dem Sondervermögen Bundeswehr nach Art. 87a GG und sind im Übrigen in Art. 109 Abs. 3 GG vorgesehen.
Unter anderem darf der Bund jedes Jahr bis zu 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes als Kredit aufnehmen, ohne dass dies dem Verbot der Neuverschuldung widerspricht. Weiter besteht für den Bund nach Art. 109 Abs. 3 S. 2, Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG und auch für die Länder nach Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG die Möglichkeit der Kreditaufnahme aus konjunkturellen Gründen.
Diese sogenannte Konjunkturkomponente macht die Schuldenbremse zur atmenden Schuldenbremse: Hat man sich bei der Haushaltsplanung zu optimistisch einen anderen Konjunkturverlauf erhofft und tritt dieser nicht ein, sind neue Kredite zulässig.
Aber am meisten Aufmerksamkeit hat im Zuge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum zweiten Nachtragshaushalt 2021 und der unzulässigen Umschichtung der Corona-Kredite eine weitere in Art. 109 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 GG vorgesehene Ausnahme erfahren: Die Kreditaufnahme in Notlagen.
In der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Spielräume
Apropos Nachtragshaushalt: Die Ampelspitzen haben sich vergangene Woche auch auf einen Nachtragshaushalt in Höhe von elf Milliarden Euro für 2024 geeinigt. Ist das auch eine Art Ausnahme von der Schuldenbremse?
In gewisser Weise schon. Neben den explizit im GG genannten Ausnahmen eröffnet die Schuldenbremse weitere Spielräume. Die können auch von einem Nachtragshaushalt genutzt werden. Darunter versteht man die nachträgliche Veränderung eines bereits vom Parlament beschlossenen Haushalts. Gemäß § 8 des Gesetzes zur Ausführung von Artikel 115 des Grundgesetzes (Artikel 115-Gesetz - G 115) kann die strukturelle Kreditaufnahme dabei um bis zu drei Prozent der veranschlagten Steuereinnahmen überschritten werden.
Und es gibt noch weitere Ausnahmen, die in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden. Eine betrifft z.B. die Ablösung staatlicher Altschulden. So erlaubt es die vermeintlich so strenge Schuldenbremse, dass alte Verbindlichkeiten, deren Laufzeit geendet hat, durch neue Kredite abgelöst werden.
Präzisierungen im Grundgesetz geboten
Sollten im Grundgesetz also eher weitere Planken gegen die Neuverschuldung gezogen werden?
Zunächst: Die Vorschriften, die im GG die Schuldenbremse betreffen, sind unter verfassungsästhetischen Aspekten alles andere als gelungen. Art. 115 GG wiederholt z.B. weite Teile von Art. 109 Abs. 3 GG. Das könnte man sicherlich kompakter fassen.
Inhaltlichen Korrekturbedarf sehe ich bei den Vorgaben, die die Haftungsübernahme durch den Staat in Art. 115 Abs. 1 GG betreffen. Vom staatlichen Einstehen für die Verbindlichkeiten Dritter gehen erhebliche finanzielle Risiken aus.
Die verfassungsrechtlichen Vorgaben sind hier unvollständig. Art. 115 Abs. 1 GG verlangt hinsichtlich der Übernahme von Bürgschaften und Garantien zwar eine der Höhe nach bestimmte Ermächtigung in einem Bundesgesetz. Die Gewährleistungen werden aber nicht auf die zulässige staatliche Neuverschuldung angerechnet, nicht einmal in Höhe des wahrscheinlichen Ausfallrisikos. Hier öffnet sich aus meiner Sicht ein zu weiteres Feld der Kreditaufnahme durch Dritte, die ihrerseits ja nicht der Schuldenbremse unterfallen. Und das Grundgesetz ist an dieser Stelle ein Stück weit naiv: Es geht davon aus, dass der Bund für die Schulden Dritter nie in Anspruch genommen wird.
Wo noch sollte im GG nachgebessert werden?
Änderungsbedarf sehe ich auch beim Thema vorläufige Haushaltsführung, die in Art. 111 Abs. 2 GG ermöglicht wird. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung darf die Bundesregierung in den Fällen, in denen kein Haushaltsplan durch Haushaltsgesetz rechtzeitig beschlossen worden ist, Kredite bis zu einem Viertel des Haushaltsvolumens des vergangenen Jahres aufnehmen, um die Wirtschaftsführung aufrechtzuerhalten. Diese bereits in der Ursprungsfassung des Grundgesetzes enthaltene Bestimmung ist offensichtlich nicht hinreichend mit den 2009 eingefügten Vorschriften über die Schuldenbremse abgestimmt. Es stellt einen Wertungswiderspruch dar, wenn in der Situation ohne gültiges Haushaltsgesetz eine viel größere Kreditaufnahme möglich sein sollte als bei einem bestehenden Haushaltsgesetz.
Im Wege der Auslegung wird man diesen Widerspruch zwar auflösen können und auf den Vorrang der materiellen Grenzen der jüngeren und spezielleren Vorschrift des Art. 115 Abs. 2 GG verweisen. Aber ich finde, die Verfassung sollte an dieser Stelle präzise sein.
Schuldenbremse nicht weiter aufweichen
Bundesverteidigungsminister Pistorius hat sich nach der Haushaltseinigung der Ampel-Spitzen mit Blick auf den Etat seines Ressorts enttäuscht gezeigt. Staat der erhofften 6 Milliarden gibt es nur 1,2 Milliarden. Er hätte sich wegen der militärischen und humanitären Unterstützung die Feststellung einer Notlage gewünscht.
Bei allem Verständnis für die Wünsche des Verteidigungsministers: Ich kann nur davor warnen, die Schuldenbremse noch weiter aufzuweichen. Sie ist jetzt schon löchrig wie ein Schweizer Käse. Fügen wir noch weitere Ausnahmen hinzu, sind wir bald wieder in einer Situation, wie sie vor der Einführung 2009 bestand. Damals öffneten wachsweiche Formulierungen in der Verfassung alle Schleusen der staatlichen Kreditaufnahme. Die staatliche Gesamtverschuldung stieg über die Kosten der Wiedervereinigung in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts hinweg bis 2009 auf fast 1,7 Billionen Euro. Sie hatte sich damit in 40 Jahren nominell weit mehr als verzwanzigfacht.
Ein derartiger Schuldenberg verengt immer den Spielraum für künftige Haushalte und geht damit zu Lasten künftiger Generationen.
Vielschichtiges Argument "Generationengerechtigkeit"
Das Argument der Generationengerechtigkeit wird ja immer wieder auch von den Befürwortern einer Schuldenbremsenreform gebracht: Es gehe darum, künftigen Generationen eine lebenswerte Zukunft zu hinterlassen. Die hierfür unerlässlichen Investitionen gebe es nur mit einer reformierten Schuldenbremse.
Der Begriff der Generationengerechtigkeit ist vielschichtig. Es geht um die Frage, was hinterlassen wir zukünftigen Generationen an funktionierender Infrastruktur, welchen sozialen Zusammenhalt und welche ökologischen Bedingungen? Aber eben auch: Welche Schulden bürden wir ihnen auf?
Das große Problem des Bundeshaushaltes ist aktuell, dass zu große Summen für konsumtive Ausgaben verwendet werden. Also für Ausgaben, die ihren Nutzen nur im jeweiligen Haushaltsjahr haben. Davon profitiert die jetzige Generation, nicht aber zukünftige Generationen. Hier sollte ein Umdenken stattfinden. Die Schuldenbremse hindert daran nicht.
Prof. Dr. Thorsten Ingo Schmidt ist Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht, insbesondere Staatsrecht, Verwaltungs-, Kommunal- und Finanzrecht an der Universität Potsdam und Direktor des dortigen Kommunalwissenschaftlichen Instituts.
Interview zur Reform der Schuldenbremse: . In: Legal Tribune Online, 12.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54988 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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