Vor allem der Streit um die Schuldenbremse führte zum Ampel-Ende. Christian Lindner sah sich wegen seines Amtseids auf die Verfassung außer Stande der Aussetzung zuzustimmen. Ob das verfassungsrechtlich überzeugt, analysiert Armin Steinbach.
Nicht weniger als die Treue zum Amtseid standen angeblich auf dem Spiel, als Olaf Scholz (SPD) von Christian Lindner (FDP) die Aussetzung der Schuldenbremse verlangte. Die in Art. 115 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) geregelte Schuldenbremse verlangt vereinfacht gesagt, dass der Bundeshaushalt grundsätzlich nur in beschränktem Umfang Kredite aufnehmen darf.
Allerdings gibt es im Grundgesetz geregelte Ausnahmen, etwa eine finanzpolitische Notsituation nach Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG. Dort heißt es, dass in Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, der Bundestag die Aussetzung der Schuldenbremse beschließen kann. SPD und Grüne sehen diese Möglichkeit für so einen Überschreitungsbeschluss durch den Ukraine-Krieg, insbesondere vor dem Hintergrund der Gefahr ausbleibender Ukraine-Hilfen aus den USA nach Trumps Wahl.
Nach seiner Entlassung aus der Regierung berief sich Lindner auf seinen Amtseid, um seine Verweigerungshaltung zu begründen: Er habe der von Scholz "ultimativ" verlangten Aussetzung der Schuldenbremse nicht zustimmen können, “weil ich damit meinen Amtseid verletzt hätte.” Lindner hat damit auf den Passus in der Amtseidformel (Art. 56 GG) rekurriert, bei der zu schwören ist, das Grundgesetz zu verteidigen. Implizit machte er damit die Aussage, die Aussetzung der Schuldenbremse sei verfassungswidrig. Dies überraschte.
Bundesregierung mit Lindner behielt sich Aussetzung der Schuldenbremse vor
Wir erinnern uns: Noch im Dezember 2023 hatte sich die Bundesregierung mit Lindner als Finanzminister bei ihrer Einigung auf den Bundeshaushalt 2024 ausdrücklich offengelassen, dass bei einer Verschärfung der Lage in der Ukraine man darauf reagieren müsse. "Sollten im Laufe des Jahres 2024 weitere erhebliche finanzielle Aufwendungen für die Unterstützung der Ukraine, auch mit internationalen Partnern, über das bisher veranschlagte Maß hinaus nötig werden, wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag vorschlagen, einen Überschreitensbeschluss nach Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 und 7 des Grundgesetzes zu fassen“, so die Vereinbarung der Regierung.
Damalige Aussagen von Christian Lindner, mit einem solchen Vorgehen würde er seinen Amtseid verletzen, sind nicht überliefert.
Diese Vorgeschichte ist nicht irrelevant, um den heute verbleibenden Spielraum zu vermessen, von einer Notlagensituation auszugehen und damit die Ukraine-Ausgaben im nächsten Haushalt von insgesamt rund 15 Mrd. Euro durch Schuldenaufnahme zu finanzieren.
Auch mehrjährige Krisen können eine Notsituation sein
Aber: Der Kriegsausbruch liegt inzwischen mehr als zwei Jahre zurück. Längst gehört der Krieg zur empfundenen Normalität. Kann man da noch von einer Notsituation sprechen? Hätte sich die Regierung nicht schon längst darauf einstellen müssen?
Nimmt man das letztjährige Urteil des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zum Nachtragshaushalt 2021 zum Maßstab erscheint der Weg über einen Überschreitungsbeschluss zumindest nicht abwegig. Darin fächert das Gericht die Voraussetzungen auf, differenziert insbesondere, wann es sich mit der gerichtlichen Überprüfung zurückhält.
Eine zeitliche Eingrenzung dessen, wie lange eine “außergewöhnliche Notsituation” vorliegen kann, benennt das Gericht nicht. Ebenso keine Eingrenzung der Kontexte, aus denen eine Notsituation erwachsen kann. Wohl aber lässt es die Begründung des verfassungsändernden Gesetzgebers gelten, dass ein "Ereignis von positiver historischer Tragweite" wie die deutsche Wiedervereinigung, die einen erheblichen Finanzbedarf auslöst, eine “außergewöhnliche Notsituation” begründen könne. Darf man ein Ereignis von negativer historischer Tragweite wie einen Angriffskrieg an den Grenzen Europas, dessen Zäsur als historische Zeitenwende nicht nur vom Bundeskanzler beschworen wird, dann nicht gelten lassen? Ein Ereignis, dem die Bundesregierung seit Ausbruch des Krieges jährlich mit einem zweistelligen Milliardenbetrag für humanitäre, militärische und finanzielle Unterstützung entgegentritt und auf das man verteidigungspolitisch mit einem Sondervermögen iHv 50 Mrd. Euro reagierte.
Unvorhersehbarkeit als Kriterium?
Aber – so könnte ein Gegenargument lauten – die russischen Angriffe und daraus folgenden Hilfsleistungen könnten doch heute nicht mehr als unvorhersehbar bezeichnet werden, selbst wenn sie es 2022 einmal gewesen sind. Konkret schließt das Gericht Krisen aus, die „lange absehbar“ waren. Sich schleichend anhäufende Staatsschulden könnten beispielsweise keine Notsituation begründen.
Allerdings ging es dem Gesetzgeber bei der Einführung der Schuldenbremse bei der Notsituation im Jahre 2009 neben kurzfristiger Krisenreaktion eben auch um länger andauernde Herausforderungen, wie etwa der Bezug auf die Deutsche Wiedervereinigung zeigt, die über einen längeren Zeitraum einen erheblichen Finanzbedarf auslösen können. Wird man behaupten, dass die Deutsche Wiedervereinigung plötzlich und “nicht absehbar” war? Oder gar, dass die sie nach zwei Jahren schon vollendet war? Wohl kaum. Dass der Krieg nun schon längere Zeit andauert, führt also nicht dazu, dass ein “neues Normal” entstünde, das die Regierung finanzpolitisch beherrschen könnte oder müsste.
Trump-Sieg kann ein Argument sein
Aber wieso hat die Regierung denn dann bitte nicht schon früher die Notsituation erklärt? Wieso will Scholz dies erst jetzt? Das mag – wie die oben zitierte Einigung der Protagonisten vom Dezember 2023 zeigt – damit zu tun haben, dass die Regierung bisher davon ausging, dass sie die Ukraine-Ausgaben aus dem regulären Haushalt wuppen könne. Oder juristisch: dass sie bislang keine “Beeinträchtigung der Finanzlage” im Sinne von Art. 115 GG gesehen hat. Bei diesem Merkmal anerkennt das BVerfG aber explizit einen Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers. Wann und ab welcher Höhe der finanziellen Belastung er die Ausgaben als Beeinträchtigung empfindet, ist gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar.
Tatsächlich hat der Kanzler nach dem Trump-Sieg die Ukraine-Unterstützung politisch neu bewertet. Scholz plant nun – so die Berichterstattung – die Ukraine-Hilfe als Reaktion auf die amerikanischen Wahlen noch einmal um drei Milliarden Euro aufzustocken, zusätzlich zu den in der Haushaltsplanung vorgesehenen rund 12 Mrd. Euro Ukraine-Hilfen. In einer finanzpolitischen Gesamtbewertung und angesichts neuer geopolitischer Faktoren hat der Kanzler seine Einschätzung zur Finanzlage damit schlichtweg aktualisiert. Nachvollziehbar, haben sich doch die Republikaner und Trump mehrfach gegen weitere Ukraine-Hilfen ausgesprochen, weswegen ein Mehrbedarf an Ukraine-Hilfen auf der Hand liegt. Deshalb kommt Scholz nun – anders noch als im Dezember 2023 – zu dem Ergebnis, dass die Ukraine-Ausgaben im Lichte aller finanzpolitischer Herausforderungen der Bundesregierung doch erheblich sind für den Haushalt. Man kann wie der Ex-Finanzminister anderer Meinung sein als der Bundeskanzler. Aber verfassungsrechtlich ist an dieser Ausübung des Einschätzungsspielraums nichts auszusetzen. Mehr noch: der Gesetzgeber ist nach Auffassung des BVerfG nicht einmal “zur Ausschöpfung anderer Konsolidierungsspielräume gehalten”. Die Regierung muss also nicht erst im Haushalt Gelder umschichten, um von einer Beeinträchtigung der Finanzlage ausgehen zu dürfen und die Schuldenbremse auszusetzen.
Darf sich die finanzpolitische Bewertung im Nachhinein ändern?
Nach Scholz Planung würden damit also die 12 Milliarden, welche aktuell für die Ukraine in der Haushaltsplanung schon vorgesehen sind, unter die Notsituation fallen und können anderweitig ausgegeben werden. Genau das kritisiert Christian Lindner, wenn er sagt, die Unterstützung der Ukraine sei nur ein Vorwand für neue Schulden. Doch ginge dieser Plan von Scholz auf? Ist nicht nur in der Differenz zwischen Haushaltsplanung und Mehrbedarf die Notsituation zu sehen? Dürfte die Bundesregierung also nicht höchstens drei Milliarden kreditfinanzieren und müsste die weiteren Ukraine-Hilfen in Höhe von zwölf Milliarden im Haushaltsentwurf 2025 aus dem regulären Haushalt finanzieren?
Nein. Die Ausgaben stehen in vollem Umfang im Veranlassungszusammenhang mit der russischen Invasion. Die aktualisierte finanzpolitische Einschätzung des Kanzlers ist nunmehr, dass die Ukraine-Ausgaben in ihrer Gesamtheit eine “Beeinträchtigung der Finanzlage” im Sinne von Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG darstellen. Im Lichte aller finanzpolitischer Herausforderungen hat er die Erheblichkeit der Beeinträchtigung der Finanzlage neu bewertet. Diese in Bezug auf die 12 Mrd. Euro rückwirkende Neubewertung ist nicht unzulässig. Neue finanzpolitische Umstände können eine neue Beurteilung der Finanzlage rechtfertigen. Die Beschränkung verfassungsrechtlicher Art folgt jedoch daraus, dass ausschließlich Ausgaben von der Ausnahme profitieren, die zur Abwendung der Notsituation eingesetzt werden. Die Höchstgrenze läge dann bei jenen 15 Mrd. Euro. Alle anderen Ausgaben des Haushalts sind an die Schuldenbremse gebunden. Insoweit ist es auch irreführend, wenn in der politischen Diskussion von einer Aussetzung der Schuldenbremse die Rede ist.
Aussetzung verfassungsrechtlich vertretbar
Nach alledem den Kanzler des Fauxpas zu bezichtigen, seinen Finanzminister zum Verfassungsbruch zu zwingen – nun ja. Man kann sowohl finanzpolitisch unterschiedlicher Auffassung sein wie auch verfassungsrechtlich die Kriterien enger ziehen wollen. Der Weg ist nicht ohne verfassungsrechtliche Risiken, aber er ist vertretbar. Nachvollziehbar ist jedoch auch, dass so mancher sein Trauma weg hat seit dem letztjährigen Urteil des BVerfG mit seinen verheerenden Auswirkungen auf die Haushaltsplanung. Aber dort ging es inhaltlich im Kern um die strikte Einhaltung der Grundsätze der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit im Staatsschuldenrecht. Nicht um eine Verengung der Inanspruchnahme des Überschreitungsbeschlusses durch den Haushaltsgesetzgeber.
Ob der Überschreitensbeschluss Realität wird, hängt angesichts der veränderten Lage nunmehr von der CDU/CSU ab. Auf ihre Stimmen käme es an. Ihre Treueschwüre an die Schuldenbremse lassen eine Einigung unwahrscheinlich erscheinen. Mit den sich abzeichnenden möglichen Koalitionskonstellationen nach Neuwahlen könnte jedoch schon bald eine grundlegende Reform der Schuldenbremse auf der politischen Agenda stehen.
Prof. Dr. Dr. Armin Steinbach, LL.M., ist Inhaber des Jean Monnet Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Rechtsökonomik an der HEC Paris. Zuvor leitete er von 2017 bis Mitte 2021 als Fachbeamter die Grundsatzreferate im Bundeswirtschaftsministerium und im Bundesfinanzministerium. Als von der SPD nominierter Sachverständiger gab er 2024 ein Gutachten für den Bundestag zur Schuldenbremse ab.
Wäre die Aussetzung der Schuldenbremse verfassungsgemäß?: . In: Legal Tribune Online, 08.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55820 (abgerufen am: 08.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag