Interview zur Schuldenbremse mit Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof: "In Not­lagen muss der Staat auch umschichten"

von Dr. Felix W. Zimmermann

13.11.2024

Die Ampel zerbrach auch am Streit um die Schuldenbremse. Ob die Aussetzung für Ukraine-Hilfe verfassungswidrig wäre, wird kontrovers diskutiert. Im LTO-Interview bezieht Bundesverfassungsrichter a. D. Ferdinand Kirchhof Stellung.

LTO: Herr Professor Kirchhof, Olaf Scholz verlangte von Christian Lindner, die Schuldenbremse für Ukraine-Hilfen auszusetzen. Doch der weigerte sich und ist offenbar der Auffassung, die Aussetzung wäre verfassungswidrig. Bevor wir auf die Frage kommen, ob Lindner damit Recht hat oder die Aussetzung zulässig wäre: Erklären Sie doch bitte kurz die Regelung zur Schuldenbremse. 

Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof: Im Grundgesetz (GG) gibt es die Vorschrift des Art. 115 Abs. 2 GG. Sie besagt vereinfacht: Der Bund darf sich grundsätzlich nicht verschulden. Ausgaben müssen ohne Einnahmen aus Krediten ausgeglichen werden. Das ist die viel beschworene "schwarze Null". Von diesem Grundsatz gibt es drei Ausnahmen, bei denen das Verbot der Kreditaufnahme aufgrund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden darf.

Welche Ausnahmen sind das? 

Prof. Dr. Ferdinand KirchhofDas ist zum einen der Fall, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten. Diese Grenze reizt der Bund regelmäßig aus. Als zweite Ausnahme wird die konjunkturelle Entwicklung berücksichtigt, also das Auf und Ab der Wirtschaft. Beide Kredite werden auf einem Kontrollkonto erfasst und müssen ab einer bestimmten Höhe konjunkturgerecht zurückgeführt werden. 

Die Ampel stritt über die dritte Möglichkeit, den Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG: Sie erlaubt eine Kreditaufnahme bei Naturkatastrophen oder in außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen. 

 

Wann liegt Ihres Erachtens eine solche Notsituation vor? 

Eine außergewöhnliche Notsituation beschreibt wie die Naturkatastrophe eine Art haushaltsrechtlichen Unfall, also den Eintritt eines unvorhersehbaren Ereignisses, das man im laufenden Haushalt nicht berücksichtigen und finanzieren konnte. Diese muss sich zudem der Kontrolle des deutschen Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen. 

"Normales politisches Geschehen"

Haben wir in Deutschland mit Blick auf den Angriffskrieg in der Ukraine, Zölle aus China oder die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten eine solche Ausnahmesituation?

Eine Notsituation begründete z. B. das plötzliche Hereinbrechen der Corona-Pandemie im Haushaltsjahr 2020. Zölle im Chinahandel oder die Wahl von Donald Trump gehören aber zum normalen politischen Geschehen, das der Haushaltsgesetzgeber im jährlichen Etat einplanen muss. Der Krieg in der Ukraine und Waffenlieferungen dorthin stellen verteidigungspolitische Fragen; eine erhebliche Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage verursachen sie angesichts ihres Umfangs nicht.

Es wird u.a. von Prof. Dr. Armin Steinbach auf LTO die Position vertreten, dass auch eine längere Krise unter die Schuldenbremse fallen könne. Schließlich sei bei ihrer Einführung 2009 explizit mit Mehrkosten aus der Wiedervereinigung von 1990 argumentiert worden. Das von Ihnen ins Feld geführte Kriterium der Unvorhersehbarkeit sei daher keine Voraussetzung. Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) spreche nicht davon. 

Das BVerfG macht sich die Auffassung, auch die Wiedervereinigung würde eine außergewöhnliche Notsituation gebildet haben, nicht zu eigen. Es referiert nur, dass die Fraktionen, die die Schuldenbremse eingebracht haben, die Wiedervereinigung als Beispiel genannt haben. Nach dem BVerfG muss eine außergewöhnliche Störung der Wirtschaft mit spürbaren und erheblichen Auswirkungen auf den Gesamthaushalt vorliegen: Es spricht von einer plötzlichen Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe im extremen Ausmaß. Das schließt nicht aus, dass sich eine Notsituation auch über mehrere Haushaltsjahre erstrecken kann. Dann muss aber die finanzielle Belastung so überwältigend sein, dass man sie nicht ohne Kredite im folgenden Haushaltsjahr verkraften könnte.

"Es muss alles auf den Tisch"

Im Podcast "Machtwechsel" rechnet Welt-Journalist Robin Alexander vor, dass zwar die Ukraine-Hilfen von zusammengerechnet 21 Milliarden Euro im Vergleich zum Gesamthaushalt von 480 Milliarden Euro keine erhebliche Summe darstellen. Allerdings sei der Großteil der Ausgaben fest verplant, etwa für Rentenzuschüsse, Bürgergeld usw. Ökonomen gingen von einer freien Spitze von nur zehn Prozent aus. Das wären also circa 48 Milliarden. Setzt man die in Verhältnis zu den 21 Milliarden Ukraine-Mehrkosten, seien das fast die Hälfte des freien Spielraums der Politik. Ist das nicht erheblich im Sinne des Grundgesetzes?

Die Berechnungen von "freien Spitzen" legen meist die noch nicht festgelegten Haushaltsmittel zugrunde und klammern die anderen aus. In Notlagen muss der Staat aber auch umschichten und auf Bestandspositionen zugreifen, bevor man von einer Notsituation im Etat sprechen kann.

Dann kommen wir aber doch zur Situation, die Olaf Scholz vermeiden will, nämlich dass die Ukraine-Hilfe in Konkurrenz zu Sozialem oder zu Investitionen in Deutschland stehen. Der Kanzler sagt. "Dieses Entweder-oder ist Gift". Das gefährde den sozialen Zusammenhalt und wäre Wasser auf die Mühlen der Feinde unserer Demokratie. Ist das keine plausible Position? 

Ein Haushalt fasst alle einzelnen Ausgabeposten zusammen und bildet immer einen parlamentarisch ausgehandelten Kompromiss zwischen dem politisch Gewünschten und dem finanziell Verkraftbaren. Einzelne Ausgabenblöcke isoliert gegenüberzustellen und dann bei Erhöhung des einen auf eine zwingende Kürzung des anderen zu schließen, bricht diesen Gesamtcharakter des Etats auf und greift in der Argumentation zu kurz. Es muss in derartigen Fällen alles auf den Tisch und im Gesamthaushalt ohne Kredite finanziert werden.

Herr Professor Kirchhof, vielen Dank für das Gespräch. 

Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof war von 2007 bis 2010 Richter des Bundesverfassungsgerichts im Ersten Senat und anschließend bis 2018 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzender des Ersten Senats.

Zitiervorschlag

Interview zur Schuldenbremse mit Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof: . In: Legal Tribune Online, 13.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55844 (abgerufen am: 21.11.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen