Deutschland bekommt durch das Justizstandort-Stärkungsgesetz endlich spezialisierte Spruchkörper für große (internationale) Wirtschaftsstreitigkeiten. Es ist eine überfällige Reform, die aber nur begrenzte Wirkung haben wird, meint Giesela Rühl.
Die deutsche Ziviljustiz leidet bekanntlich seit vielen Jahren an einem kontinuierlichen Rückgang der Eingangszahlen. Diese betreffen unter anderem den Bereich hochvolumiger, häufig internationaler Wirtschaftsstreitigkeiten. Schon lange wird deshalb darüber diskutiert, wie deutsche Gerichte für diese Streitigkeiten wieder attraktiv gemacht werden können. Mit der Verabschiedung des Justizstandort-Stärkungsgesetzes hat diese Diskussion einen vorläufigen Schlusspunkt gefunden. Durch eine Reihe von verfahrensrechtlichen und institutionellen Maßnahmen will das Gesetz den Gerichtstandort Deutschland national stärken und ihm international Anerkennung und Sichtbarkeit verschaffen.
Das Gesetz bringt im Wesentlichen zwei Neuerungen. Die erste bezieht sich auf die mögliche Wahl von Englisch als Verfahrenssprache. Die zweite sieht die Schaffung spezieller OLG-Senate für hochvolumige (internationale) Wirtschaftsstreitigkeiten vor.
Englisch als mögliche Verfahrenssprache
Anders als bislang soll es möglich sein, einen Zivilprozess von der ersten bis zur letzten Instanz vollständig – d.h. von der Einreichung der Klagschrift bis zur Abfassung des Urteils – auf Englisch zu führen. Gegenüber der alten Rechtslage stellt sich dies als großer Fortschritt dar. Denn bislang waren die Möglichkeiten, die Sprache des internationalen Handels vor deutschen Gerichten zum Einsatz zu bringen auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung und die Vorlage englischsprachiger Urkunden begrenzt. Urteile, Beschlüsse, Verfügungen, Ladungen, Fristsetzungen, Belehrungen sowie das Sitzungsprotokoll mussten demgegenüber auf Deutsch abgefasst werden. Zudem gab es keine sichere Aussicht auf eine zweite englischsprachige Instanz.
Beides stand im Gegensatz zu einem vielfach formulierten praktischen Bedarf sowie zu einem internationalen Trend, vollständig englischsprachige Gerichtsverfahren über mehrere Instanzen zu ermöglichen. Auch wenn nicht klar ist, wie viele Parteien perspektivisch tatsächlich ein Interesse an vollständig englischsprachigen Verfahren vor deutschen Gerichten haben werden, ist es richtig, die deutsche Zivilgerichtsbarkeit für Englisch als Verfahrenssprache zu öffnen.
Keine Verpflichtung des BGH zur Fortführung eines Verfahrens auf Englisch
Die Verantwortung für die Durchführung englischsprachiger Verfahren legt das Justizstandort-Stärkungsgesetz in die Hände unterschiedlicher Spruchkörper. In erster Instanz sollen spezielle Zivil- oder Handelskammern – sogenannte Commercial Chambers – zuständig sein. Diese sollen von den Bundesländern nach ihrem Ermessen an ausgewählten Landgerichten eingerichtet werden. In zweiter und dritter Instanz soll es demgegenüber – zumindest dem Grundsatz nach – keine speziellen Spruchkörper für englischsprachige Verfahren geben. Vielmehr sollen alle Senate der Oberlandesgerichte (OLG) und des Bundesgerichtshofs (BGH) auf Englisch verhandeln dürfen.
Anders als die OLG-Senate werden allerdings die BGH-Senate nicht zu einer Verfahrensführung auf Englisch verpflichtet. Vielmehr wird die Weiterführung eines Verfahrens auf Englisch von einem entsprechenden Antrag in der Revisionsschrift und der Zustimmung des zuständigen Senats abhängig gemacht. Zudem wird dem BGH gestattet, zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens anzuordnen, dass das Verfahren in deutscher Sprache weitergeführt wird. Ob ein Gerichtsverfahren, das in englischer Sprache begonnen wurde und über ein bzw. zwei Instanzen auf Englisch geführt wurde, auch in dritter Instanz in englischer Sprache geführt werden kann, steht damit im Ergebnis im freien Ermessen des BGH. Dies ist misslich, da es auf diese Weise zu einem Sprachenbruch kommen kann, der geeignet ist, die Attraktivität deutscher Gerichte für internationale Verfahren zu reduzieren.
Spezialisierte Senate für hochvolumige Wirtschaftsstreitigkeiten
Die zweite Neuerung, die das Justizstandort-Stärkungsgesetz bringt, betrifft die Schaffung spezieller OLG-Senate für hochvolumige (internationale) Wirtschaftsstreitigkeiten. Diese als Commercial Courts bezeichneten Senate, die von den Bundesländern nach ihrem Ermessen eingerichtet werden können, sollen für bestimmte bürgerliche und gesellschaftsrechtliche Rechtsstreitigkeiten auf Wunsch der Parteien – abweichend vom allgemeinen Instanzenzug – in erster Instanz zuständig sein, wenn der Streitwert mindestens 500.000 Euro beträgt. Sie sollen zur fachlichen Spezialisierung der deutschen Justiz beitragen und damit der verbreiteten Wahrnehmung entgegenwirken, dass sich hochvolumige Wirtschaftsstreitigkeiten nicht adäquat vor deutschen Gerichten, sondern besser vor Schiedsgerichten beilegen lassen.
Zudem soll die Möglichkeit, ein Verfahren direkt vor dem OLG zu beginnen, den Instanzenzug flexibilisieren und damit dem Umstand Rechnung tragen, dass viele Parteien auch deshalb ein Schiedsverfahren einem staatlichen Gerichtsverfahren vorziehen, weil sie einen kurzen Instanzenzug schätzen und keine Notwendigkeit für zwei Tatsacheninstanzen sehen. Und schließlich sollen die Commercial Courts auch die Internationalisierung der deutschen Justiz vorantreiben. Auf Wunsch der Parteien dürfen auch sie nämlich ihr Verfahren – wie die Commercial Chambers – vollständig auf Englisch führen. Zudem können die Bundesländer bestimmen, dass die Commercial Courts nicht nur erstinstanzlich, sondern auch für Berufungen und Beschwerden gegen englischsprachige Entscheidungen der Commercial Chambers zuständig sind, soweit diese Rechtstreitigkeiten betreffen, für die die Commercial Courts angerufen werden dürften.
Spezialisierung, Flexibilisierung, und Internationalisierung sind allerdings nicht die einzigen Ziele, die der Gesetzgeber mit der Einrichtung der Commercial Courts verfolgt. Hinzukommt der Wunsch, das Verfahren der Commercial Courts der (internationalen) Schiedspraxis anzunähern. Das Gesetz verpflichtet die Commercial Courts deshalb zum einen dazu, mit den Parteien so früh wie möglich in einem – auch als case management conference bezeichneten – Organisationstermin bindende Vereinbarungen über die Organisation und zum Ablauf des Verfahrens treffen. Und zum anderen wird den Commercial Courts aufgetragen, auf übereinstimmenden Antrag der Parteien das Verhandlungsprotokoll als (mitlesbares) Wortprotokoll zu führen. Beide Vorschriften wären zwar nicht im engeren Sinne nötig gewesen, weil Gerichte auch nach geltendem Recht nicht daran gehindert sind, Vereinbarungen über die Organisation und den Ablauf des Verfahrens zu treffen und ein Wortprotokoll zu erstellen. In der bisherigen gerichtlichen Praxis wird davon allerdings bislang kaum Gebrauch gemacht.
Erfolg hängt an den Ländern
Insgesamt stellt sich das Justizstandort-Stärkungsgesetz vor diesem Hintergrund als Schritt in die richtige Richtung dar. Es ist – trotz mancher Kritik, die man im Einzelnen üben kann und muss – dem Grunde nach geeignet, die Rahmenbedingungen für die Beilegung hochvolumiger (internationaler) Wirtschaftsstreitigkeiten zu verbessern. Trotzdem sollten die Erwartungen an die Wirkungen des Gesetzes nicht zu hochgeschraubt werden. Denn der Gesetzgeber operiert mit zahlreichen Ermächtigungs- und Öffnungsklauseln zu Gunsten der Bundesländer. Inwiefern zivilgerichtliche Verfahren perspektivisch tatsächlich vollständig auf Englisch geführt werden können und inwiefern es für hochvolumige Wirtschaftsstreitigkeiten perspektivisch tatsächlich spezielle OLG-Senate geben wird, hängt deshalb davon ab, ob und wie die Bundesländer von den ihnen eingeräumten Befugnissen Gebrauch machen.
Darüber hinaus dürfte der praktische Erfolg des Gesetzes aber auch von Investitionen der Bundesländer in die persönliche, räumliche und technische Ausstattung ihrer Gerichte abhängen. Tatsächlich müssten die Bundesländer in personeller Hinsicht sicherstellen, dass an den Commercial Courts qualifizierte Richterinnen und Richter arbeiten, die über die erforderlichen fachlichen und sprachlichen Qualifikationen sowie im Idealfall auch über praktische (anwaltliche) Erfahrung im Wirtschaftsrecht verfügen. Zudem müssten die Pensenschlüssel so gefasst sein, dass die an den Spezialsenaten tätigen Richterinnen und Richter ausreichend Zeit haben, um sich komplexen (nationalen und internationalen) Wirtschaftsstreitigkeiten widmen zu können. Und schließlich müssten häufige Dezernatswechsel im Interesse einer langfristigen Spezialisierung vermieden werden. In technischer und räumlicher Hinsicht müssten die Bundesländer darüber hinaus Verhandlungsräume in ausreichender Zahl und Größe und mit vernünftiger technischer Ausstattung (Stichwort Telefon- und Videokonferenzanlagen) zur Verfügung stellen, und zwar auch für die längere Nutzung über mehrere Tage oder auch Wochen.
Ein realistisches Erwartungsmanagement ist schließlich auch im Hinblick auf die zu erwartende internationale Wirkung des Gesetzes geboten. Denn selbst bei einer perfekten Umsetzung durch die Bundesländer verbleiben hier Probleme, die es unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass sich Deutschland im internationalen Wettbewerb der Justizstandorte kurz- und mittelfristig (weiter) vorne platzieren wird. So wird die deutsche Justiz auch nach Umsetzung des Justizstandort-Stärkungsgesetzes gegenüber der Schiedsgerichtsbarkeit zahlreiche Nachteile aufweisen. Zudem wird der deutschen Justiz weiterhin der moderate Ruf und die schlechte Zugänglichkeit des deutschen materiellen Rechts auf die Füße fallen.
Internationale Wirkung wird überschaubar bleiben
Die Bewertung des Justizstandort-Stärkungsgesetzes muss vor diesem Hintergrund differenziert ausfallen: Während es für nationale Streitigkeiten – eine kluge Umsetzung und ausreichende Investitionen durch die Bundesländer vorausgesetzt – durchaus einen Unterschied machen kann, wird seine Wirkung für internationale Streitigkeiten aller Voraussicht nach überschaubar bleiben.
Wie im Gesetzgebungsverfahren erkannt, muss der Gesetzgeber deshalb am Ball bleiben und insbesondere die Probleme, die die internationale Attraktivität deutscher Gerichte auch nach Umsetzung des Gesetzes beeinträchtigen werden, angehen. Dazu gehört insbesondere die (zu strenge) Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen im unternehmerischen Geschäftsverkehr.
Daneben sollte aber nicht vergessen werden, dass die vom Justizstandort-Stärkungsgesetz adressierten internationalen und hochvolumigen Wirtschaftsstreitigkeiten nur einen kleinen Teil der Streitigkeiten ausmachen, die jedes Jahr vor deutschen Gerichten landen, während der Rückgang der Fallzahlen die Ziviljustiz insgesamt betrifft. Zu einer nachhaltigen Stärkung des Justizstandorts Deutschland wird es deshalb erst dann kommen, wenn deutsche Gerichte auch für die verbleibenden Streitigkeiten wieder eine relevante Anlaufstelle darstellen. Die vom Bundesministerium der Justiz vorgestellte Studie zur "Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei Zivilgerichten" hat insofern deutlich gemacht, wo Handlungsbedarf besteht. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass der Gesetzgeber nicht stehen bleibt, sondern weitere Maßnahmen ergreift, um deutsche Gerichte flächendeckend wieder attraktiver zu machen.
Die Autorin ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Europäisches und Internationales Privat- und Verfahrensrecht und Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin und (Co-) Autorin einer rechtsvergleichenden Studie der International Academy of Comparative Law zum Thema International Commercial Courts (Man Yip & Giesela Rühl, New International Commercial Courts: A Comparative Perspective, Intersentia, 2024). Im Verfahren zur Verabschiedung des Justizstandort-Stärkungsgesetzes wurde sie zweimal als Sachverständige im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages angehört.
Das Justizstandort-Stärkungsgesetz: . In: Legal Tribune Online, 08.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55582 (abgerufen am: 11.11.2024 )
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