2/2: Ansichtssache: Ist der Mindestlohn definiert?
Die Bundesregierung selbst hatte sich seinerzeit im Gesetzentwurf auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) bezogen. Der Mindestlohn sei ein "Mindestentgeltsatz" im Sinne des § 2 Nr.1 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, und diesen habe der EuGH in Urteilen rund um die zugrundeliegende Entsenderichtlinie (RiLi 96/71) hinreichend definiert.
Hier prallen Meinungen aufeinander: Während die Bundesregierung die Ansicht vertrat, die entsprechenden Urteile (vom 14.04.2005, Az. C-341/02, Kommission/Deutschland und vom 7.11.2013, Az. C-522/12 – Isbir) lieferten ausreichende Kriterien, meinen die Berliner Richter, dass die RiLi 96/71 selbst keine Anhaltspunkte für eine inhaltliche Definition des Mindestlohns gebe. Zudem könnten nach ständiger Rechtsprechung des EuGH Zulagen und Zuschläge, die nicht durch die Rechtsvorschriften oder die Praktiken des Mitgliedstaats als Bestandteile des Mindestlohns definiert werden und die das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der von ihm erhaltenen Gegenleistung verändern, nicht aufgrund der Richtlinie 96/71 als derartige Bestandteile betrachtet werden. Das habe der EuGH in Sachen Sähköalojen ammattiliitto so entschieden (Urt. v. 12.02.2015, , Az. C-396/13, Az. C-341/02).
Um zu definieren, was zum Mindestlohn zu zählen ist, beriefen sich die Berliner Richter auch auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Anrechnung von Arbeitgeberleistungen auf den Mindestlohn in der Abfallwirtschaft (BAG, Urt. v. 16.04.2014, Az. 4 AZR 802/1). Danach sei davon auszugehen, so die Berliner Richter, "dass der Mindestlohn lediglich der Vergütung der 'Normal'leistung dient." Es komme also darauf an, ob eine Leistung im konkreten Fall das vergütet, was der Arbeitnehmer 'normalerweise' tun muss oder ob eine Zahlung für überobligatorische Leistungen erfolgt.
Ihr Ergebnis war: Urlaubs- und Weihnachtsgeld sind nicht auf den gesetzlichen Mindestlohn anzurechnen.
ArbG Herne: Sehr wohl mindestlohnrelevant
Anders entschieden es jetzt die Arbeitsgerichte in Herne und Brandenburg. Herne hat die Klage einer Arbeitnehmerin abgewiesen, die gegen die Anrechnung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld auf ihren Mindestlohn geklagt hatte. Jedenfalls monatlich anteilig ausgezahltes Urlaubs- und Weihnachtsgeld sei auf den Mindestlohn anzurechnen.
Die Klägerin hatte zunächst Urlaubs- und Weihnachtsgeld als Einmal- bzw. Sonderzahlung erhalten und dann mit der beklagten Arbeitgeberin eine monatliche Auszahlung des Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu je 1/12 vereinbart. Da nur durch diese Zahlungen überhaupt der Mindestlohn erreicht werde, seien die Zahlungen unwiderruflich und daher mindestlohnrelevant, urteilten die Richter.
Herne meint zudem, die anteiligen Zahlungen hätten Entgeltcharakter und wiesen einen unmittelbaren Bezug zur Arbeitsleistung auf. Die Kammer verwies ebenfalls auf die Gesetzesbegründung zum Mindestlohngesetz - und hielt die Erläuterungen für hinreichend. Demnach dürfen zusätzliche Leistungen als Bestandteil des Mindestlohns gewertet werden, wenn diese monatlich und unwiderruflich ausgezahlt werden. Ebenso entschied es jetzt das ArbG Bandenburg.
Auch Boni in der Diskussion
"Dem Urteil ist voll zuzustimmen", sagt Benjamin Keck von der Kanzlei Steinrücke Sausen, Vertreter der Arbeitgeberin im Herner Fall. "Es steht im Einklang mit der Rechtsprechung zu den Branchenmindestlöhnen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz und dem Regelungszweck des Mindestlohngesetzes." Dieser bestehe darin, unter Berücksichtigung aller entgeltbezogenen Lohnbestandteile ein Lohnniveau von 8,50 Euro pro Zeitstunde zu schaffen. Eine Erhöhung des reinen Grundlohns auf 8,50 Euro habe der Gesetzgeber nicht beabsichtigt.
Der Zoll, der die Einhaltung des Mindestlohns überwacht, differenziert übrigens: "Besteht kein tarifvertraglicher Anspruch auf das zusätzliche Urlaubsgeld, kann diese Leistung im Monat der Zuwendung auf den Mindestlohn angerechnet werden", heißt es. Für den Deutschen Gewerkschaftsbund ist die monatliche Stückelung ein "Taschenspielertrick".
Auch das ArbG Düsseldorf hat sich bereits mit der Anrechenbarkeit von Entgeltbestandteilen auf den Mindestlohn befasst. Hier war es um die Einbeziehung eines Leistungsbonus' gegangen (Urt. v. 20.04.2015, Az: 5 Ca 1675/15). Nach Auslegung der Kammer fließt dieser neben dem Grundlohn in die Berechnung des Mindestlohnes ein.
Die letzten Worte dürften jedenfalls noch nicht gesprochen sein: Am ArbG Brandenburg wird jedenfalls mit der Berufung gerechnet. Und auch die Berliner Akte liegt bereits beim Landesarbeitsgericht.