Massenradfahren: Eine bedrohte Art erobert ihren Lebensraum zurück

von Adolf Rebler, Dr. jur.

23.07.2011

"Wir behindern nicht den Verkehr – wir sind der Verkehr! Schließt euch zusammen und holt euch ein Stück Straße zurück". Mit solchen Parolen werden Radfahrer in vielen Großstädten dazu aufgerufen, sich "unorganisiert" zu treffen und durch langsames Fahren im Pulk gegen den Autoverkehr zu protestieren. Ob ihr Verhalten auch rechtmäßig ist, erläutert Adolf Rebler.

"Ein weltweiter Zufall" mit Auswirkung soll es sein - in Städten überall auf der Welt treffen sich Radfahrer und radeln gemeinsam in breiter Front durch ihre Stadt. Die "Critical Mass" (CM) will einen Dominoeffekt auslösen: Der Begriff lehnt sich an die Atomphysik an, in der die "kritische Masse" als die Menge an angereichertem Uran verstanden wird, ab der die Kettenreaktion startet.

Angefangen 1992 in San Francisco ist das Phänomen inzwischen über den großen Teich geschwappt. Und die Fahrten unmotorisierter Verkehrsteilnehmer als Mittel zum "kreativen Straßenprotest" werden anscheinend immer beliebter: Mal 135 Radfahrer in Nürnberg, mal 60 Radfahrer am 14. Juli in Köln, mal 350 Radler am 15. Juli in Wien.

Laut Wikipedia ist die CM eine Aktionsform, bei der sich die Teilnehmer scheinbar zufällig und unorganisiert treffen, um mit gemeinsamen und unhierarchischen Protestfahrten durch Innenstädte als konzentrierte Masse auf ihre Belange und Rechte gegenüber dem motorisierten Individualverkehr aufmerksam zu machen.

Kein Veranstalter, keine Verantwortlicher, kein fester Ablauf

Dass sie so leicht und ungezwungen daher kommt, ist aus Sicht der Initiatoren das große Plus bei dieser Form der Kundgebung: Wo nichts organisiert ist, kann auch nichts verboten werden. Es gibt keine Auflagen, und jedenfalls im Voraus kann keine Behörde etwas dagegen tun.

Tatsächlich sind öffentliche Straßen für alle da, und sie dienen dem Verkehr. Straßenrechtlich bezeichnet man das als Gemeingebrauch, der im Bundesfernstraßengesetz (FStrG) und in den Straßengesetzen der Länder geregelt ist. Er soll gewährleisten, dass alle so schnell und so sicher wie möglich an ihr Ziel kommen.

Doch was fällt unter den Begriff "Verkehr"? Innerorts meint dies zum Beispiel nicht nur die reine Ortsveränderung von A nach B. Vielmehr soll hier die Straße auch die Kommunikation und den Kontakt zur Umwelt ermöglichen. Außerorts dienen die Straßen dagegen vorwiegend zur Fortbewegung und zum Transport von Gütern.

Allerdings weicht auch dieses Dogma mehr und mehr auf. So hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 31. Juli 2008 ein auf das Versammlungsgesetz (VersammlG) gestütztes Verbot des Regierungspräsidiums Gießen als ermessensfehlerhaft aufgehoben (Az. 6 B 1629/08). Dabei war die Nutzung eines Teils der A 44 für eine Fahrraddemo unter Hinweis auf die unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit untersagt worden.

Erlaubnispflicht für die CM oder Spontandemo?

Da sich die CM auch als Demonstration sieht, unterfällt sie zunächst dem Schutz des Art. 8 GG. Zudem gelten die Regeln des Versammlungsrechts, die den Straßenverkehrsgesetzen vorgehen. Das VersammlG kennt nur eine Anmelde- bzw. Anzeigepflicht (§ 14 VersammlG), aber keine Genehmigungspflicht. Eine straßenverkehrsrechtliche Erlaubnispflicht würde sich also als unzulässiger Eingriff in das Versammlungsrecht darstellen. Auch "Spontanversammlungen" fallen unter den Schutz des Art. 8 GG. Da die CM aber gerade nicht als organisierte Veranstaltung stattfindet, ist eine vorherige Anzeige nicht möglich.

Die zuständigen Behörden haben also nur die Möglichkeit, die CM nach § 15 VersammlG zu verbieten, wenn die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet ist. Dabei ist aber zu beachten, dass Behinderungen anderer Verkehrsteilnehmer wegen der großen Bedeutung des Grundrechts auf Demonstration hingenommen werden müssen. Die Grenze ist nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erst erreicht, wenn es den Teilnehmern einer Demo nur darum geht, andere absichtlich zu behindern (Beschl. v. 24.10.2001, Az. 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93, 1 BvR 433/96). Denn auch Art. 8 GG gibt keinem das Recht, den Verkehr mutwillig lahmzulegen.

Nach § 29 Abs. 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO) braucht man für Veranstaltungen eine Erlaubnis, wenn hierfür Straßen mehr als verkehrsüblich in Anspruch genommen werden. Das ist etwa der Fall, wenn der normale "Verkehr" wegen der Zahl oder des Verhaltens der Teilnehmer oder deren Fahrweise eingeschränkt wird. Bei Radtouren geht man von einer Beeinträchtigung aus, wenn mehr als 100 Personen teilnehmen.

Demgegenüber verneinen landesrechtliche Regelungen zum Teil die Erlaubnispflicht für "Radsportliche Veranstaltungen ohne Renncharakter", wenn nicht mehr als 50 Teilnehmer zu erwarten sind. CM kann also in manchen Fällen schon aufgrund einer geringen Teilnehmerzahl unterhalb der Erlaubnispflicht bleiben.

Problematisch erscheint hier, dass niemand im Vorfeld weiß, wieviele Radler tatsächlich am CM teilnehmen. Ob erlaubnispflichtig oder nicht: Solange ein Bescheid nicht vorliegt, sind aber alle Radler streng an die Verkehrsvorschriften gebunden.

Die kritische Masse als geschlossener Verband

Auch für Radfahrer gilt das Gebot, möglichst weit rechts zu fahren (§ 2 Abs. 2 StVO). Grundsätzlich müssen sie auch einzeln hintereinander fahren; ein Nebeneinander ist nur erlaubt, wenn dadurch der Verkehr nicht behindert wird. Aber gerade das wollen die Teilnehmer der CM ja nicht – hintereinanderfahren.

Die Vorschrift des § 27 StVO (das Fahren in Verbänden) bietet – scheinbare – Abhilfe. Hier wird die Radlergruppe von der "kritischen Masse" nämlich zum geschlossenen Verband. Ein geschlossener Verband ist eine geordnete, einheitlich geführte und als Ganzes erkennbare Personen- oder Fahrzeugmehrheit. Die einzelnen Radler gelten damit als ein Fahrzeug und der übrige (Auto-)Verkehr darf diesen Verband nicht unterbrechen. Die Masse muss daher in angemessenen Abständen Zwischenräume für den restlichen Verkehr bilden.

Hinzu kommt: Bilden Radfahrer einen Verband, müssen sie nicht hintereinander fahren. Doch dürfen sie damit zum "Verkehrshindernis" werden? Letztlich erlaubt die Vorschrift den Radlern nur, zu zweit nebeneinander zu fahren. Und das auch nur dann, wenn sie den übrigen Verkehr nicht behindern.

Schließlich scheint es auch ein Widerspruch in sich zu sein, wenn die CM sich einerseits auf das Radeln im "geschlossenen Verband" beruft, andererseits aber behauptet, das Ganze sei unorganisiert und deshalb nicht erlaubnispflichtig. Eine innere Ordnung, eine nach außen hin sichtbare Zusammengehörigkeit und eine feste Führung als Kennzeichen eines Verbandes will die CM ja gerade nicht darstellen.

Die kritische Masse bewegt sich rechtlich zumindest in einer Grauzone. Wenn auch die Motive der Teilnehmer in Zeiten des alltäglichen Verkehrskollapses, Ressourcenknappheit und steigender Benzinpreise ehrenhaft erscheinen, ist fraglich, ob massive Maßnahmen wie CM mehr bewirken als moderate und intelligente Verbandsarbeit der radfahrenden Bevölkerung. Diese Entscheidung trifft jeder für sich selbst.

Der Autor Adolf Rebler ist Regierungsamtsrat in Regensburg und Autor zahlreicher Publikationen zum Straßenverkehrsrecht.

 

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Zitiervorschlag

Adolf Rebler, Massenradfahren: . In: Legal Tribune Online, 23.07.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3832 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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