AG Tiergarten zu "From the River to the Sea": Auf den Zeit­punkt kommt es an

von Dr. Max Kolter

07.08.2024

Die Strafbarkeit der propalästinensischen Parole ist umstritten. Das AG Berlin-Tiergarten verurteilt nun eine Frau wegen Billigung von Straftaten. Zum umstrittenen Verwenden von Kennzeichen verbotener Organisationen äußert es sich nicht.

Der Ausspruch "From the River to the Sea, Palestine will be free" war und ist immer wieder auf Palästina-solidarischen Demonstrationen zu hören. Nach Ansicht vieler in Deutschland sollte die Parole von deutschen Straßen verbannt werden. Sie sehen darin eine Aufforderung, den Staat Israel zu beseitigen und dessen Bewohner zu töten oder gewaltsam zu vertreiben. Verteidiger des Ausspruchs argumentieren dagegen, dass er nur ein Ziel formuliere, nicht aber die Mittel benenne und damit nicht zwingend einen Gewaltaufruf enthalte. Auch sei das Ziel (Befreiung Palästinas) vage gehalten, es bedeute nicht zwingend die Verdrängung des heutigen Staates Israel aus dem gesamten Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer. Vielmehr könne auch eine Befreiung der Palästinenser von den diskriminierenden Praktiken und Rechtsregimen in den – nach Auffassung des Internationalen Gerichtshofs von Israel illegal besetzten – palästinensischen Gebieten gefordert sein. Schließlich könne ein säkularer gemeinsamer Staat begehrt sein, in dem Juden und Palästinenser friedlich und gleichberechtigt leben.

Nun hat der Spruch in Berlin zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt. Das Amtsgericht (AG) Berlin-Tiergarten verhängte gegen eine Frau am Dienstag eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 15 Euro, also 600 Euro (Urt. v. 06.08.2024, Az. 261b Cs 1037/24). Die 22-Jährige hatte den Slogan in einer verbotenen Ansammlung von etwa 60 Personen auf der Berliner Sonnenallee Mitte Oktober angestimmt.  

Die Verurteilung erfolgte wegen Billigung von Straftaten gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 2 Strafgesetzbuch (StGB). Auf andere Straftaten ging die Richterin nach Angaben einer Gerichtssprecherin gegenüber LTO nicht ein. Insbesondere blieb die kontroverse Frage offen, ob der Ausspruch "vom Fluss bis zum Meer" generell ein Hamas-Symbol darstellt und daher auch eine Strafbarkeit wegen Verwendens verbotener Kennzeichen nach §§ 86, 86a StGB gegeben ist. 

Vier Tage nach dem Hamas-Angriff

Nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 StGB wird bestraft, wer vorsätzlich eine besonders schwere Straftat in der Öffentlichkeit oder auf einer Versammlung billigt, wenn die Äußerung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Zu den dort in Bezug genommenen Katalogstraftaten zählen auch die von der Hamas am 7. Oktober und danach verübten Morde, Vergewaltigungen, Geiselnahmen und Kriegsverbrechen. 

Die Richterin am Moabiter Amtsgericht war davon überzeugt, dass die Angeklagte diese Gräuel mit dem Ausspruch billigen wollte und dies in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise geschah. Maßgeblich dafür war laut Kurzmitteilung des Gerichts vor allem das Datum der Äußerung: der 11. Oktober 2023. Vier Tage nach dem Überfall der Hamas, bei dem in Israel 1.200 Menschen, mehrheitlich israelische Zivilisten, ermordet und weitere 239 Personen entführt worden waren. 

Vier Tage nach dem Angriff könne der Ausspruch nur als "Leugnung des Existenzrechts Israels und Befürwortung des Angriffs" verstanden werden, hieß es in der Mitteilung. Inwiefern für das Gericht auch andere Umstände des Einzelfalls wie etwa das Verhalten übriger Versammlungsteilnehmer, dort gezeigte Symbole oder Plakate, Mimik oder Gestik eine Rolle spielten, ist unklar. Die schriftlichen Entscheidungsgründe werden erst in einigen Wochen erwartet.

Auf den Kontext kommt es an

Aber klar ist nach dem, was über die Urteilsgründe bekannt ist: Es kommt für die Auslegung des Ausspruchs auf den Kontext an. Dazu verpflichten nicht nur die Tatbestandsmerkmale des § 140 StGB, sondern nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Meinungsfreiheit, die die Verteidiger der 22-Jährigen im vorliegenden Fall allerdings vergeblich in Stellung brachten. 

Warum die Parole jedenfalls im Kontext mit anderen Jubelszenen in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum 7. Oktober strafbar ist, hatte Ex-Bundesrichter Prof. Dr. Thomas Fischer auf LTO bereits im Oktober begründet. "Die genannte Parole ist als solche – also als abstrakte Forderung – nicht strafbar", schrieb Fischer. Anders sei es aber, wenn sie "in einem unmittelbaren, kommentierenden Zusammenhang mit Straftaten im Sinn von § 140 StGB geäußert wird". Bei spontanen Demos am 7. and 8. Oktober könne die Forderung eines freien Palästinas vom Jordan bis zum Mittelmeer nur als Billigung der Hamas-Gräuel verstanden werden. Auf dieser Linie bewegt sich auch das AG Tiergarten. 

Dass ein anderes Versammlungsthema und ein anderer Zeitpunkt zu einer abweichenden Bewertung führen können, zeigt ein Beschluss des Landgerichts (LG) Mannheim vom Mai 2024, über den LTO ausführlich berichtet hatte. Hier hatte das LG den Erlass eines Strafbefehls wegen eines Plakats mit der Parole abgelehnt. Zugrunde lag allerdings ein Sachverhalt vom Mai 2023. Die dortige Versammlung war dem 75. Jahrestag der sog. Nakba gewidmet. Die Teilnehmenden wollten den mindestens 700.000 zwischen 1947 und 1949 gewaltsam aus Palästina vertriebenen bzw. geflüchteten Menschen gedenken, die im Zuge der israelischen Staatsgründung ihre Heimat verloren. 

Gericht äußert sich nicht zur kontroversen Frage 

Keine Aussage lässt sich dem Urteil des AG Tiergarten zu der derzeit kontrovers diskutierten Rechtsfrage entnehmen, inwiefern die Parole auch als Verwenden von Kennzeichen verbotener Organisationen nach §§ 86, 86a StGB strafbar sein könnte. Eine solche Strafbarkeit stand vor dem 7. Oktober nicht im Raum. Das änderte sich mit dem vom Bundesinnenministerium (BMI) gegen die Hamas ausgesprochenen Betätigungsverbot vom 2. November. Dort stuft das BMI die Parole "vom Fluss bis zum Meer" in sämtlichen Sprachen als Kennzeichen der Hamas ein. Dabei soll es weder auf den Kontext noch darauf ankommen, ob auch der zweite Satzteil "Palestine will be free" geäußert wird. 

Einige Staatsanwaltschaften – darunter auch die Berliner – bejahen seitdem zumindest einen Anfangsverdacht des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (§§ 86, 86a StGB).

Ob diese Einschätzung richtig ist, ist unter den Gerichten stark umstritten. Mit den historischen Argumenten, warum der Spruch (k)ein Hamas-Kennzeichen ist, hat sich das AG Tiergarten vorliegend nicht auseinandergesetzt. Denn dieses Delikt war gar nicht angeklagt. Dies begründet die Staatsanwaltschaft gegenüber LTO damit, dass die Verbotsverfügung des BMI zur Tatzeit noch gar nicht in der Welt war. 

Zwar kommt es darauf rechtlich gar nicht an, schließlich ist die Zuordnung der Parole zur Hamas durch das BMI nicht rechtsverbindlich. Vielmehr prüfen die Straf- und Verwaltungsgerichte eigenständig, welche Symbole und Parolen konkret Kennzeichen der verbotenen Organisation sind und welche nicht. Der BMI-Verfügung kommt insofern der Charakter einer Einschätzung zu – und diese Einschätzung bezieht sich nicht erst auf die Zeit ab dem 2. November. Allerdings sei vor diesem Zeitpunkt der Nachweis schlechter zu führen, dass Skandierende auch mit dem erforderlichen Vorsatz handeln, also mit dem "Wissen, dass es sich um Kennzeichen handelt", ergänzt Behördensprecher Sebastian Büchner auf LTO-Anfrage. Dann sei die "Einlassung, hinsichtlich der Einordnung der Parole einem Irrtum unterlegen zu sein, schwerer zu widerlegen", so der Oberstaatsanwalt.

Ob das AG Tiergarten das genauso sieht oder bereits die Zuordnung der Parole zur Hamas für unzutreffend hält, blieb am Dienstag unklar. Jedenfalls sah das Gericht keine Veranlassung zu einem richterlichen Hinweis nach § 265 Strafprozessordnung, also einen Hinweis darauf, dass auch eine Strafbarkeit wegen Kennzeichenverwendung in Betracht kommt. Aufschluss könnten die schriftlichen Entscheidungsgründe geben. 

Ist die Parole ein Hamas-Symbol? 

Das LG Mannheim verneinte eine Strafbarkeit nach §§ 86, 86a StGB in dem genannten Mai-Beschluss. Dafür war auch – aber nicht ausschließlich – maßgeblich, dass die dortige Demonstration im Mai 2023 stattgefunden hatte und somit keinerlei Bezug zum 7. Oktober aufweisen konnte. In einem anderen Fall aus Mannheim nahm der dort ansässige Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hingegen an, dass auf einem Protest gegen den aktuellen Gaza-Krieg mit hinreichend vielen Teilnehmenden die Verwendung der Parole als Hamas-Symbol naheliege; LTO berichtete. Daneben gibt es viele sich inhaltlich widersprechende Eilentscheidungen der Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte, etwa aus Bayern und Hessen einerseits (Verbot rechtswidrig), aus Bremen, Berlin, NRW und wiederum Baden-Württemberg andererseits (Verbot rechtmäßig).

Während sich die Verwaltungsgerichte unter erhöhter Medienaufmerksamkeit streiten, ist wenig bekannt, wie die Strafgerichte bislang mit der Parole umgehen. In mehreren Einzelfällen haben Amtsgerichte nach LTO-Recherchen bereits Strafbefehle ausgestellt, in mindestens einem Fall aus Nürnberg ist diese Entscheidung rechtskräftig geworden.

Damit ist das Urteil des AG Tiergarten vom Dienstag jedenfalls nicht der erste Fall, in dem ein Gericht für die Parole eine Strafe festgesetzt hat, womöglich aber das erste Mal, dass dies – auch hier erst nach einem Einspruch gegen den Strafbefehl – aufgrund mündlicher Hauptverhandlung geschah.

Verallgemeinerungsfähige Aussagen über die Strafbarkeit der Parole lassen sich der Moabiter Entscheidung kaum entnehmen – außer der vage gehaltenen Formel: je kürzer die Zeitspanne zwischen 7. Oktober und Äußerung, desto wahrscheinlicher ist eine strafbare Deutung. Auch muss sich noch zeigen, ob das Urteil Bestand haben wird. Sowohl die Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft können noch Rechtsmittel einlegen. Die Verteidigung hat am Dienstag schon angekündigt, in Berufung zu gehen.

Zitiervorschlag

AG Tiergarten zu "From the River to the Sea": . In: Legal Tribune Online, 07.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55162 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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