Mit dem LG Berlin I stuft erstmals eine große Strafkammer die Parole als Hamas-Kennzeichen ein. Die Verteidigung legte am Montag Revision ein, sodass endlich der BGH Klarheit schaffen kann. Das sind die rechtlichen Knackpunkte.
Ist "From the River to the Sea" strafbar? Reicht dafür schon dieser geografische Teil der Parole? Oder gilt das nur in Verbindung mit dem fordernden Zusatz "Palestine will be free" – wenn und weil man dies als Aufruf zur Auslöschung Israels und zur gewaltsamen Vertreibung der dort lebenden Bevölkerung versteht?
Über diese Fragen streiten Straf- und Verwaltungsgerichte, seitdem das Bundesinnenministerium (BMI) die Parole in dem Betätigungsverbot gegen Hamas vor mehr als einem Jahr kurzerhand als Kennzeichen der Terrororganisation einstufte. Nun kommt unerwartete Dynamik in die unentschiedene Rechtsprechung: Der Bundesgerichtshof (BGH) wird entscheiden – über eine Revision gegen ein Urteil des Landgerichts (LG) Berlin I vom vergangenen Freitag.
Das LG verhängte gegen eine 42-jährige Berlinerin eine Geldstrafe u.a. wegen Verwendens von Kennzeichen terroristischer Organisationen nach § 86a Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB), weil sie im November und Dezember 2023 die Parole zweimal auf Instagram geteilt hatte. Indem sie zudem das Foto eines Sprechers der Quassam-Brigaden der Hamas "mit zustimmenden Kommentaren und Emojis" versehen habe, sei zusätzlich der Tatbestand des Verbreitens von Propagandamitteln terroristischer Organisationen nach § 86 Abs. 2 StGB erfüllt (Urt. v. 8.11.2024, Az. 502 KLs 21/24). Es war das erste Mal, dass eine große Strafkammer den Spruch als Hamas-Kennzeichen einstufte.
Ohne Zwischenhalt nach Karlsruhe
Die Besonderheit des Falls: Der Tatbestand des § 86 StGB begründet nach § 74a Abs. 1 Nr. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes die erstinstanzliche Zuständigkeit des LG. Wenn die Verurteilung hält, hat diese Tatbestandskombination für die Angeklagte eine saftige Geldstrafe von 130 Tagessätzen zu je zehn Euro zur Folge, die im Führungszeugnis auftaucht. Für die an Rechtssicherheit interessierte Öffentlichkeit hat sie aber eine positive Nebenfolge: Gegen erstinstanzliche Urteile des LG steht als einziges Rechtsmittel die Revision beim BGH zur Verfügung. Normalerweise werden diese Fälle nämlich wegen der geringen Straferwartung vorm Amtsgericht verhandelt, der Instanzenzug endet dann beim Oberlandesgericht.
Viele hatten daher erwartet, dass über die Frage, inwiefern die Parole eine strafrechtliche Verurteilung nach sich ziehen darf, zuerst das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und erst später, wenn überhaupt, der BGH entscheiden wird. Doch nun kommt es anders. Die Revision hat der Verteidiger der angeklagten Berlinerin, Dr. Frank K. Peter, am Montag eingelegt, wie er gegenüber LTO bestätigte. Der BGH solle klären, inwiefern auch im Rahmen der §§ 86, 86a StGB der Kontext der Äußerung im Einzelfall zu berücksichtigen sei.
Wie viel Einzelfallbetrachtung lässt die Kennzeichen-Strafbarkeit zu? Das ist die Kernfrage, um die die Gerichte seit über einem Jahr ringen. Vor der Verbotsverfügung des BMI vom 2. November 2023 war der Slogan, bis auf wenige Ausnahmen, nicht nach §§ 86, 86a StGB verfolgt worden – obwohl man ihn mit den nun verwendeten Argumenten auch schon damals der Hamas hätte zurechnen können. Die Zuordnung wird vor allem damit begründet, die Hamas habe sich den Slogan in ihrer Charta von 2017 und durch andere Kommunikationen in den letzten Jahren zu eigen gemacht.
Auf den Kontext kommt es an – oder?
Von 2022 bis zum 7. Oktober 2023 war vor allem eine Strafbarkeit wegen Volksverhetzung (§ 130 StGB) diskutiert, aber überwiegend abgelehnt worden. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel geriet die Billigung von Straftaten nach § 140 Nr. 2 StGB in den Fokus. Eine solche liegt nach Einschätzung von Ex-BGH-Richter Prof. Dr. Thomas Fischer auf LTO eindeutig vor, wenn Menschen über den Terror-Angriff der Hamas jubeln, wie es am Nachmittag und Abend des 7. Oktober auf der Berliner Sonnenallee geschah.
Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten wendete diese Strafvorschrift auch gegen eine Frau an, die vier Tage nach dem Terrorangriff, am 11. Oktober, vor einer ebenfalls an der Sonnenallee gelegenen Schule "From the River to the Sea" skandierte. In dem Urteil, über das LTO berichtete, befand das Gericht, die zeitliche Nähe zum 7. Oktober lasse hier keine gewaltfreie Interpretation der Parole – etwa als Forderung von Gleichbehandlung von Juden und Palästinensern auf dem Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer – zu.
Ist nach dem Kontext der Äußerung eine straflose Interpretation denkbar und nicht völlig fernliegend? Dies ist der Maßstab, den das BVerfG in Bezug auf Äußerungsdelikte entwickelt hat, um der Bedeutung der Meinungsfreiheit Rechnung zu tragen. Er folgt direkt aus dem Grundgesetz und gilt damit unabhängig davon, um welche StGB-Vorschrift es im konkreten Fall geht – auch wenn das nicht überall gleich deutlich wird. So ist offensichtlich, dass das Gericht die Äußerung auslegen muss, wenn es prüfen soll, ob damit zum Hass gegen Bevölkerungsteile aufgestachelt (§ 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB), eine konkrete Straftat gebilligt (§ 140 Nr. 2) oder zu einer solchen öffentlich aufgefordert wurde (§ 111 StGB).
Weniger klar ist das im Fall der §§ 86, 86a StGB. Hier scheint auf den ersten Blick nur zu prüfen zu sein, ob eine Äußerung ein Symbol einer verbotenen Organisation ist; auf den Inhalt der Äußerung scheint es nicht anzukommen. Und bei bloßen Symbolen wie dem Hakenkreuz etwa fragen Gerichte auch nicht nach dem Aussagegehalt. Hier ist das Symbol deshalb strafbar, weil es sich die NSDAP zu eigen gemacht hat.
Keltenkreuz-Entscheidung des BGH von 2008
Das LG Berlin I meint, das gelte auch für "From the River to the Sea" und die Hamas. Eine Strafkammer am LG Mannheim hatte das in einem vielbeachteten Beschluss Ende Mai 2024 anders gesehen und den Erlass eines Strafbefehls abgelehnt; LTO hatte berichtet.
Die Berliner Richter nehmen dabei laut Mitteilung des Gerichts Bezug auf ein Urteil des BGH vom 1. Oktober 2008 zum sogenannten Keltenkreuz. Dabei handelt es sich um ein mittelalterliches sakrales keltisches Symbol mit verschiedenen Varianten, eine von denen die 1982 verbotene rechtsextreme Volkssozialistische Bewegung Deutschlands / Partei der Arbeit als ihr Zeichen nutzte. Der 3. BGH-Strafsenat entschied, dass es für die Zuordnung eines Symbols zur verbotenen oder terroristischen Organisation ausreiche, wenn es sich die Organisation durch ständigen Gebrauch zu eigen mache. Unerheblich sei, ob das Symbol "auch unverfängliche Verwendung in anderem Zusammenhang findet und von der Organisation lediglich übernommen wurde" (Az. 3 StR 164/08).
Was der wohl auch für die Revision aus Berlin zuständige 3. Strafsenat des BGH daraus für die Strafbarkeit von "from the River to the Sea" ableitet, wird jetzt spannend. Während sich das Keltenkreuz-Urteil auf ein reines Symbol bezieht, handelt es sich beim Palästina-Slogan um eine Wortfolge, die der Auslegung grundsätzlich zugänglich ist. Ob die Rechtsprechung des BVerfG zur Meinungsfreiheit es erlaubt, eine mögliche Suche nach dem Aussagegehalt einfach zu unterlassen, ist fraglich. Das dürfte allenfalls dann zulässig sein, wenn die Symbolkraft des Slogans besonders eindeutig ist, die angeklagte Äußerung also komplett identisch mit dem Wortlaut ist, den die verbotene Organisation nutzt. Das ist hier – auch aufgrund von Abweichungen zwischen Arabisch und Englisch – mit Fragezeichen behaftet.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass der BGH sich in der Keltenkreuz-Entscheidung vor allem zur Frage der Zuordnung des Symbols zur verbotenen Organisation widmet. Diese ist aber nicht der einzige rechtliche Knackpunkt. So berücksichtigte auch das LG Mannheim in seiner Entscheidung, kein Strafverfahren zu eröffnen, das Keltenkreuz-Urteil. Trotzdem kam es zu dem Schluss, dass "From the River to the Sea" kein Hamas-Kennzeichen sei.
Dabei führten die Mannheimer Richter zwei Erwägungen an, die das LG Berlin I bislang nicht thematisiert hat. Weder in der Pressemitteilung noch – nach übereinstimmenden Angaben einer Gerichtssprecherin sowie von Verteidiger Peter gegenüber LTO – in der mündlichen Urteilsbegründung am Freitag.
Drei juristische Knackpunkte
Erstens handelt es sich nach Ansicht des LG Mannheim – jedenfalls bei dem geografischen Teil "from the River to the Sea" – schon gar nicht um eine Parole. Denn dies setze einen "motivierenden Leitspruch" voraus. Zweitens sei der Spruch – jedenfalls mit dem Zusatz "Palestine will be free" – nicht der Hamas zuzurechnen. Für ein Zueigenmachen des Spruchs durch Hamas wird – etwa vom VGH Baden-Württemberg sowie vom LG Berlin I – eine Passage in Artikel 20 der Hamas-Charta von 2017 angeführt. Die lautet auf Deutsch: "Die Hamas lehnt jede Alternative zur vollständigen und uneingeschränkten Befreiung Palästinas ab, vom Fluss bis zum Meer."
Als bislang einziges Gericht weist das LG Mannheim darauf hin, dass dieser Wortlaut von dem dort angeklagten, auf propalästinensischen Demos skandierten Ausspruch "From the River to the Sea, Palestine will be free" abweicht. Zudem macht die Kammer darauf aufmerksam, dass es in der arabischen Fassung heißt: "von seinem Fluss bis zu seinem Meer." Das mag man für inhaltsgleich mit dem Demo-Spruch halten, wobei zu beachten ist, dass Art. 20 der Charta auf die Grenzen von 1967 verweist. Wortgleich sind die Versionen aber jedenfalls nicht. In der Pressemitteilung des LG Berlin I heißt es dagegen, die Hamas habe "die in Rede stehende Parole seit 2017 in ihre Charta aufgenommen". Ob doch ein entsprechendes Problembewusstsein besteht, wird erst die Abfassung der schriftlichen Entscheidungsgründe zeigen. Die BGH-Richter dürften hier etwas genauer hinsehen.
Entscheidend könnte auch eine dritte Hürde werden, an der das LG Mannheim die Strafbarkeit scheitern ließ: einen Tatbestandsausschluss für Äußerungen, die erkennbar nicht dem Schutzzweck der §§ 86, 86a StGB zuwiderlaufen. Diese Ausnahme hat der BGH selbst, u.a. in der Keltenkreuz-Entscheidung, entwickelt. Anerkannt ist sie bislang – außer den in § 86 Abs. 4 StGB genannten Fällen staatsbürgerlicher Aufklärung, Kunst, Wissenschaft und Presse – aber nur, wenn mit der Kennzeichenverwendung offenkundig Kritik an der verbotenen Organisation oder deren Ideologie geübt wird. Das ist insbesondere bei NS-Symbolen relevant geworden. Die Maßstäbe sind streng, wie ein Kritiker von Corona-Maßnahmen kürzlich vor dem Kammergericht erfahren musste, das ihn für die Darstellung eines Hakenkreuzes auf einer Mund-Nasen-Bedeckung wegen § 86a StGB schuldig sprach.
Wie man das auf die River-Sea-Parole übertragen kann, ist offen. Nach Auffassung des VGH Hessen und des LG Mannheim solle die Äußerung der Parole nur strafbar sein, wenn sie einen klar erkennbaren Bezug zur Hamas-Ideologie hat. Der bayerische VGH betonte in zwei Entscheidungen mit unterschiedlichen Ergebnissen (hier und hier) die Pflicht der Versammlungsbehörde, die ideologische Nähe der Demo-Teilnehmer zur Hamas tatsachenbasiert darzulegen. Das Oberverwaltungsgericht Bremen und der VGH Mannheim hingegen lassen eine Strafbarkeit nur entfallen, wenn ausnahmsweise Anhaltspunkte für einen fehlenden Organisationsbezug vorliegen. Der Berliner Fall ist insofern aber wohl eindeutig: Wer Fotos von Mitgliedern der Quassam-Brigaden mit zustimmenden Emojis versieht und ein Instagram-Profil unter dem Namen "Hamas Lounge" betreibt, wird schwerlich argumentieren können, keine Hamas-Sympathie (gehabt) zu haben.
Revision gegen LG-Urteil eingelegt: . In: Legal Tribune Online, 14.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55867 (abgerufen am: 14.11.2024 )
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