Fraktionswechsel im niedersächsischen Landtag: Neu­wahl oder Demo­k­ra­tie­ver­lust

von Franz X. Berger

10.08.2017

2/2: Parteiwechsel von Abgeordneten als Gefahr für die Demokratie

Wechselt ein Abgeordneter die Partei und verändern sich dadurch keine Mehrheiten im Parlament, ist dieser Vorgang praktisch folgenlos. Anders stellt es sich dar, wenn die Opposition durch einen Wechsel Minderheitenrechte verliert oder - wie in Niedersachsen - sogar die Regierungsmehrheit verloren geht. Noch drastischer würde es, wenn gleich mehrere Abgeordnete einen Wechsel vollzögen. Eine vormals kleinere Fraktion könnte so zur Mehrheit im Parlament anwachsen. Auch wäre denkbar, dass die Abgeordneten zu einer nicht im Parlament vertretenen Partei übertreten und sich zu einer regierungsfähigen Fraktion im Parlament neu zusammenfinden. Dem Wählerwillen würde die dann bestehende Regierung überhaupt nicht mehr entsprechen.

Spitzt man dieses Szenario derart zu, ist es denkbar, dass sich ein beliebiger Kreis von Abgeordneten die Mehrheitsverhältnisse im Parlaments zum Spielball macht. Das würde die parlamentarische Demokratie aushöhlen und erinnert an die Zustände zum Ende der Weimarer Republik.

Nun gibt es vielfältige Gründe, einen Schritt wie denjenigen von Frau Twesten zu gehen, von denen aber nicht alle hinzunehmen sind. Die Grenze des Unvertretbaren bildet das Strafrecht mit der Bestechlichkeit von Mandatsträgern nach § 108e Strafgesetzbuch, doch dürften in der Regel lautere Motive der Grund für einen Wechsel sein. Ein entsprechender Rückruf eines Abgeordneten ist aber nicht möglich: Er kann aus seinem Amt für die Zeit, für die er gewählt wurde, nicht abberufen werden.

Bei unumkehrbaren Zerwürfnissen mit der eigenen Partei bleiben einem Abgeordnetem grundsätzlich drei Reaktionsmöglichkeiten, um seinem Protest Ausdruck zu verleihen: Er kann erstens sein Mandat freiwillig niederlegen, zweitens aus der Fraktion austreten und als fraktionsloser Abgeordneter sein Mandat entsprechend den durch das Wüppesahl-Urteil (v. 13.06.1989, Az. 2 BvE 1/88) festgelegten Mitwirkungsmöglichkeiten weiter ausüben oder drittens die Seiten wechseln. Doch alle drei Varianten entsprechen – zumindest im Falle eines Listenkandidaten - nicht dem durch die Wahl geäußerten Volkswillen.

Neuwahl, um Vertrauen in die Demokratie zu schützen

Ein solch bewusstes Abweichen vom Wählerwillen darf nicht hingenommen werden. Die Gesetzeslage sieht für eine derartig herbeigeführte Veränderung der Mehrheitsverhältnisse im Parlament allerdings nicht automatisch Neuwahlen vor. Es bleibt im Grunde nur die von Weil geforderte Möglichkeit des Parlaments, die Selbstauflösung zu beschließen und anschließend Neuwahlen abzuhalten.

Bei einem gleichgelagerten Fall auf Bundesebene müsste die Auflösung des Bundestages mit anschließenden Neuwahlen mangels eines Selbstauflösungsrechts entsprechend Art. 68 GG über die auflösungsgerichtete Vertauensfrage herbeigeführt werden. Nur so kann die repräsentative Demokratie ihre Glaubwürdigkeit behalten und ihrem Namen gerecht werden.

Wer wie Frau Twesten mit demokratisch fragwürdigem Verhalten agiert, dem muss umso demokratischer geantwortet werden: Neuwahlen sind im vorliegenden Fall das einzig probate Mittel. Nur so kann verhindert werden, dass Parlamentarier sich auf Grund ihres freien Mandats vom Volkswillen lösen und ein solches Verhalten mangels adäquater Reaktionen Schule macht.

Im Interesse der Demokratie gilt es nun parteiübergreifend für alle Abgeordneten des niedersächsischen Landtags, am 21. August eigene Machtinteressen zurückzustellen und den Wähler wieder entscheiden zu lassen. Nur Neuwahlen in Niedersachsen wären der für das Volk notwendige Beweis für die Selbstreflektion der Parlamentarier - und damit für die Funktionsfähigkeit unserer repräsentativen Demokratie.

Der Autor Franz X. Berger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Passau und promoviert derzeit zu einem verfassungsrechtlichen Thema.

Zitiervorschlag

Fraktionswechsel im niedersächsischen Landtag: . In: Legal Tribune Online, 10.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23893 (abgerufen am: 07.11.2024 )

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