BGH erneut zum Berliner Raser-Fall: Beim zweiten Mal wird alles anders

Gastbeitrag von Dr. Matthias Wachter

19.06.2020

Er hat es wieder getan: Der 4. BGH-Strafsenat hebt wieder ein Urteil im "Ku'damm-Raser"-Fall auf – diesmal jedoch nur teilweise. Für Matthias Wachter ist die Entscheidung vor allem aus zwei Gründen begrüßenswert.

Mit Spannung wurde die zweite Entscheidung des BGH im Berliner Raser-Fall erwartet. Was die Strafbarkeit des Angeklagten N. angeht, hatte sich bereits in der mündlichen Verhandlung eine gewisse Tendenz angedeutet. Anders als beim Mitangeklagten H. kollidierte N.'s Wagen im Februar 2016 nicht mit dem des Opfers auf dem Ku'Damm. Da sich die Bundesanwaltschaft dem Verteidigervorbringen anschloss und auch die Vorsitzende Richterin des 4. BGH-Strafsenats keinen großen Diskussionsbedarf erkennen ließ, war mit einer Aufhebung des Mordurteils gegen N. zu rechnen gewesen.

Anders sah die Lage für den unmittelbar am Unfall beteiligten Angeklagten H. aus. Die Erwägungen, die den 4. BGH-Strafsenat im Jahr 2018 zur Aufhebung bewogen haben, sind bereits damals als reichlich spitzfindig kritisiert worden. Zentral war für die Karlsruher Richter bei der Vorsatzfrage, welche Rolle die Eigengefährdung des Fahrers spielt. Etwas verkürzt: Wie sehr kann ein Fahrer, der mit seiner eigenen Gefährdung rechnet, den Tod eines anderen Menschen wollen?  Die Richter stellten unter anderem heraus, dass es zwar keine Regel gebe, wonach ein Tötungsvorsatz zwingend ausscheide, wenn mit der fremdgefährdenden Handlung auch eine Eigengefährdung einhergehe. Allerdings kritisierten sie die Hypothese der 35. Strafkammer des Berliner Landgerichts. Die Berliner Richter waren davon ausgegangen, dass sich Fahrer derart schwerer Sportfahrzeuge grundsätzlich sicher fühlten und jegliches Risiko für sich selbst ausblendeten. Dabei seien die Berliner Richter von einem Erfahrungssatz ausgegangen, der so nicht existiere, so nun die Entscheidung aus Karlsruhe.

Diese Argumentation ist für ein Revisionsgericht bemerkenswert. Da bei einer Revision im Unterschied zur Berufung keine weitere eigenständige Tatsachenermittlung durchgeführt wird, liegt der Fokus auf der Ermittlung von Rechtsfehlern im angefochtenen Urteil. Dies führt dazu, dass zwar die Erwägungen zum Schuldspruch – die Frage also, wie der vom Tatrichter festgestellte Sachverhalt rechtlich zu würdigen ist – in weitem Umfang überprüft werden können.

Bei der revisionsrechtlichen Prüfung der Tatsachenfeststellung jedoch kommt dem in § 261 Strafprozessordnung (StPO) niedergelegten Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung eminente Bedeutung zu: Da demnach der Tatrichter nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung über das Ergebnis der Beweisaufnahme zu entscheiden hat, beschränkt sich die Kontrolle durch den BGH auf relativ eng umgrenzte Rechtsfehler. Das können etwa eine Lückenhaftigkeit oder Widersprüchlichkeit der Beweiswürdigung oder ein Verstoß gegen Denk- und Erfahrungssätze sein.

Revisionsrechtliche Grenzen nunmehr beachtet

Indem der BGH dem Landgericht nunmehr eine tragfähige Begründung insofern attestiert, als es die vom Angeklagten selbst angenommenen Eigengefahren als gering einschätzte und eine entsprechende Billigung der Gefahren bejahte, berücksichtigt er diese revisionsrechtlichen Grenzen. Gleiches gilt, wenn die BGH-Richter nun akzeptieren, dass die Berliner Strafkammer gerade der außergewöhnlichen Gefährlichkeit des Fahrverhaltens eine ausschlaggebende Bedeutung für die Frage nach der Billigung eines tödlichen Ausgangs beigemessen hat. Dies stärkt und achtet nicht nur den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, sondern führt auch zu einer gewissen Beruhigung des Tatrichters, der sich einem immer dichter gespannten revisionsrechtlichen Kontrollnetz ausgesetzt sieht.

Die Entscheidung des BGH enthält darüber hinaus einen zweiten zustimmungswürdigen Aspekt, der die Vorsatzdogmatik betrifft. Zahlreiche Stimmen in der Strafrechtswissenschaft sehen die Annahme des Vorsatzes in Raser-Fällen mit Skepsis; sie liegt auch der Linie des BGH eigentlich fern. Denn die höchstrichterliche Rechtsprechung verlangt seit jeher, dass der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt (kognitives Element) und diesen auch im Rechtssinne billigt (voluntatives Element). Gerade aber das voluntative Element stellt die Beurteilung der Raser-Fälle vor eine Herausforderung.

Nach der Rechtsprechung verweist das Wollens-Element auf eine innere emotionale Einstellung des Handelnden zu den erkannten Gefahren: Wer faktisch noch auf einen guten Ausgang vertraut, bei dem kann von einem "Billigen" des Erfolgs keine Rede sein. Eine Tötung Dritter geht in den Raser-Fällen immer auch mit einer Eigengefährdung einher; deshalb scheint ein "Billigen" durch den Fahrer mehr als zweifelhaft. Da es den Rasern entscheidend darauf ankommt, mit einem unbeschädigten Fahrzeug als erster ans vereinbarte Ziel zu gelangen, dürften sie diese Gefahren zumeist ausblenden oder verdrängen, sich aber gerade nicht mit ihnen abfinden.

Klar ist aber auch, dass ein Blick in die Köpfe der Raser nicht möglich ist. Daher steht der Richter vor der Aufgabe, aus äußeren Umständen auf die innere Einstellung der Fahrer schließen zu müssen. Ein solcher äußerlicher Aspekt soll nach bisheriger Rechtsprechung vor allem in der Gefährlichkeit des Verhaltens liegen: Handle der Täter, obwohl er sich eines besonders hohen Gefahrpotentials bewusst sei, billige er auch den Erfolgseintritt. Der BGH hat diese Argumentation, auf die die 32. Kammer des Berliner Landgerichts ihre Ausführungen zum Vorsatz hauptsächlich stützte, ausdrücklich und zu Recht anerkannt.

Wandel in der Rechtsprechung zum Vorsatz?

Damit aber nähert er sich unversehens derjenigen Auffassung an, die zutreffend auf ein voluntatives Element im Vorsatz verzichtet: Erschöpft sich das "Billigen" des Erfolgs nämlich darin, dass der Fahrer in Kenntnis der großen Gefahren handelt, ist mit ihm nicht mehr bezeichnet, als das kognitive Vorsatzelement ohnehin zum Ausdruck bringt.

Dieses Ergebnis ist auch unter Wertungsaspekten weitaus überzeugender. Denn wie bereits erwähnt geht es beim voluntativen Vorsatzelement um eine eigene innere Einstellung des Handelnden zu den erkannten Gefahren. Wer dabei auf der Grundlage noch so tollkühner und draufgängerischer Motive annimmt, es werde "schon gut gehen", darf nach dieser Logik mit einer Bestrafung wegen einer Fahrlässigkeitstat rechnen. Gerade diejenigen aber, die aus Rücksichtslosigkeit Gefahren für Dritte verdrängen, haben am wenigsten eine nachsichtige Behandlung durch das Recht verdient. Der BGH macht mit seinem heutigen Urteil daher einen Schritt in die richtige Richtung.

Dr. Matthias Wachter ist Akademischer Rat an der Universität Augsburg. Er war bereits als Richter in einer Strafkammer des LG Regensburg tätig.

Zitiervorschlag

BGH erneut zum Berliner Raser-Fall: . In: Legal Tribune Online, 19.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41944 (abgerufen am: 01.11.2024 )

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