2/2: Fundamentale Entscheidungen, getroffen in kleinen Fachbruderschaften
Dieser ESM ist, wie auch der die nationale Haushalts- und Finanzpolitik steuernde sog. Fiskalpakt, außerhalb der üblichen Rechtsetzungsverfahren der EU als völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Euro-Mitgliedstaaten abgeschlossen worden. So wurde der Widerstand insbesondere von Großbritannien umgangen. Gleichzeitig konnte man aber auch der EU-Kompetenzordnung ausweichen, die derart weitreichende Regelungen, wie sie gegenüber Griechenland getroffen wurden, wohl kaum gedeckt hätte.
Dieser Bypass über die intergouvernementale Zusammenarbeit ist in gewisser Weise konsequent, weil letztlich über Haushaltsmittel der Mitgliedstaaten entschieden wird. Aber er schwächt das Europäische Parlament, das in diesem Prozess der Krisenbewältigung nur Zaungast ist. Die wesentlichen Akteure sind neben der Kommission die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und die Troika, in der insbesondere die EZB ein Fremdkörper und dort offenbar selbst nicht mehr glücklich ist.
Die nationalen Parlamente werden hingegen darauf reduziert, die Entscheidungen der Exekutive abzusegnen; sie sind Notare, nicht Akteure dieses Prozesses. Der deutsche Bundestag musste die Verträge trotz ihrer erheblichen finanziellen Auswirkungen schon absegnen, um eine Regierungs- und eine diplomatische Krise zu vermeiden. Auch dem griechischen Parlament blieb gar nichts anderes übrig, als das zu beschließen, was vertraglich mit der Troika vereinbart worden ist.
Krisen sind, so heißt es oft, die Stunde der Exekutive. In Europa sind daraus Jahre der Exekutive geworden. Fundamentale Entscheidungen fallen nicht in Parlamenten, sondern in kleinen Fachbruderschaften, in denen zwar zum Glück auch ökonomische Vernunft institutionalisiert ist. Aufgrund der institutionell bedingten monetären Verengung haben aber die politischen und die sozialen Dimensionen der Krise ein zu schwaches Gewicht.
Gegen die nationalstaatliche Kleinkrämerei: stärkere europäische Gesetzgebung
Die Konzentration fundamentaler Entscheidungen in einem solchen kleinen Fachzirkel beschädigt das demokratische Prinzip, die (rechts-)politische Kultur und die europäische Verbundenheit. Weil ein gemeineuropäischer demokratischer Diskurs über die Krisenbewältigung fehlt, hat Griechenland sich genommen, was Europa ihm nicht ermöglicht hat: eine Entscheidung über den Sinn und Unsinn der Austeritätspolitik.
Wäre diese Diskussion im Europäischen Parlament und im Rat geführt worden, hätte sie im Rahmen des ordentlichen unionsrechtlichen Rechtsetzungsverfahrens zu verbindlichen Regelungen geführt, die kein Land mehr einseitig in Frage stellen könnte. So aber kann nun auch umgekehrt niemand das deutsche Volk daran hindern, bei nächster Gelegenheit diejenigen in politische Verantwortung zu wählen, die Deutschlands Ausstieg aus seinen Verpflichtungen zu betreiben versprechen.
Um diesen Rückfall in nationalstaatliche Kleinkrämerei zu verhindern, muss die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft gestärkt werden. Ihr müssen die Kompetenzen übertragen werden, die sie braucht, um zukünftigen europäischen Krisen mit den Mitteln demokratischer Rechtsstaatlichkeit zu begegnen.
Das wird überhaupt nicht einfach. Aus rechtlichen Kompetenzen folgt politische Macht, damit aber auch demokratische Beeinflussungsmöglichkeiten. Beides verbinden wir nach wie vor überwiegend mit dem Nationalstaat, und die "Entwöhnung" fällt insoweit schwer. Auch warten auf diesem Weg fundamentale Herausforderungen wie ein eigenständiger Haushalt für die Euro-Mitgliedstaaten und ein Abgabenerhebungsrecht der "Euro-Union".
Aber die wenig erquickliche Alternative ist, dass auch weiterhin die deutsche Regierung über griechische Sozialreformen und die griechische Regierung über die Verwendung deutscher Steuergelder mitentscheiden. Die Verhinderung der nächsten Krise muss die Stunde der europäischen Legislative werden.
Der Autor Prof. Dr. Thorsten Kingreen ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg und derzeit Gastwissenschaftler an der University of California in Berkeley.
Griechenland-Krise: . In: Legal Tribune Online, 19.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14734 (abgerufen am: 03.11.2024 )
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