Drei Jahre Europäische Staatsanwaltschaft: Waren die Erwar­tungen zu hoch?

Gastbeitrag von Andreas Grözinger

11.09.2024

Im Juni 2021 hat die Europäische Staatsanwaltschaft ihre Arbeit zum Schutz der finanziellen Interessen der EU aufgenommen. Die Erwartungen an die Behörde waren hoch. Konnte sie diese erfüllen? Andreas Grözinger analysiert die Entwicklung.

Die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) vor rund drei Jahren war die Geburt einer neuen Behörde und ging mit etlichen personellen, organisatorischen und rechtlichen Neuerungen einher.  Die EUStA wurde im Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit durch die Verordnung (EU) 2017/1939 (EUStA-VO) unter Beteiligung von 22 EU-Mitgliedsstaaten gegründet. Seit März nimmt zudem Polen an der EUStA teil – Schweden soll folgen. Die Verordnung zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA-VO) bildet den rechtlichen Rahmen, der durch die nationalen Strafverfahrensregelungen ausgefüllt wird.

Als einheitliche europäische Behörde mit Sitz in Luxemburg wird die EUStA in allen teilnehmenden Mitgliedsstaaten tätig. Die EUStA wird durch die Europäische Generalstaatsanwältin, die Rumänin Laura Codruta Kövesi, geleitet. 

Die eigentliche Ermittlungsarbeit in den Mitgliedsstaaten übernehmen die Delegierten Europäischen Staatsanwälte. Dies sind nationale Staatsanwälte, die zur EUStA abgeordnet werden. Sie werden fortan allein für die EUStA tätig, ermitteln für diese den Sachverhalt und treten vor den nationalen Gerichten für die EUStA auf. 

Über die wesentlichen Fragen der Verfahrenseinleitung und -einstellung sowie der Anklageerhebung entscheiden jedoch nicht die Delegierten Staatsanwälte, sondern die sog. Ständigen Kammern. Die von der Europäischen Generalstaatsanwältin (oder ihren Stellvertretern) geleiteten ständigen Kammern bestehen aus zwei Europäischen Staatsanwälten und leiten und überwachen die von den Delegierten Europäischen Staatsanwälten geführten Ermittlungen. Sie sind gegenüber den Delegierten Europäischen Staatsanwälten weisungsbefugt und können diese auch anweisen, Ermittlungen aufzunehmen oder nationale Ermittlungsverfahren an sich zu ziehen.

Anfangseuphorie und Erwartungsdruck

So intensiv der Weg bis zur Entstehung der EUStA war, so groß war die Euphorie zum Auftakt ihrer Tätigkeit. Ein "Meilenstein der Europäisierung des Strafrechts" nannte der Deutsche Europäische Staatsanwalt Andrés Ritter seine Behörde und erhob die effektive und "allen rechtsstaatlichen Standards" entsprechende Tätigkeit der EUStA gar zur Frage der Glaubwürdigkeit für die gesamte Europäische Union.

Entsprechend groß waren die Erwartungen an die Behörde. Während sich die nationalen Ermittlungsbehörden vor allem effektivere Ermittlungen und eine zielgerichtetere Einziehung von Vermögenswerten in grenzüberschreitenden Sachverhalten erhoffte, wagte man in der Anwaltschaft die Hoffnung, dass die Gründung einer eigenen europäischen Staatsanwaltschaft zu einer europaweiten Vereinheitlichung – und ggf. Anhebung – rechtsstaatlicher Standards führen könnte. Zugleich fürchtete man, die EUStA könnte sich in grenzüberschreitenden Sachverhalten bei der Beantragung von Ermittlungsmaßnahmen und der Wahl des Anklageorts die jeweils beschuldigtenunfreundlichere Jurisdiktion wählen und dadurch etwa nationale verfassungsrechtliche Standards umgehen (sog. Forum Shopping). 

Die EUStA wächst

Gut drei Jahre nach dem Auftakt der EUStA kann man vor allem eins feststellen: Die EUStA wächst! 

Mittlerweile sind allein in Deutschland mehr als 20 Delegierte Europäische Staatsanwälte und Staatsanwältinnen tätig. Den Grund für das schnelle Wachstum lässt sich in den jährlich veröffentlichten Jahresberichten nachlesen: Eine stetig steigende Zahl an Ermittlungsverfahren. Waren es im ersten Jahr noch 54 Ermittlungsverfahren wies der Bericht (für Deutschland) für das Jahr 2023 bereits zehn Anklagen und 176 aktive Ermittlungsverfahren betreffend einen geschätzten Gesamtschaden von 2,8 Milliarden Euro aus.

In rechtlicher Hinsicht gibt es dagegen mit Ausnahme der wegweisenden Entscheidung des EuGH vom 21.12.2023 (C-281/22) zur Frage, ob die Gerichte des umsetzenden Mitgliedsstaats die Anordnung einer Ermittlungsmaßnahmen durch ein Gericht eines anderen Mitgliedsstaats überprüfen dürfen (Antwort: Dürfen sie nicht) wenig Neues. 

Rückgriff auf nationales Recht

Der Grund: Die Delegierten Europäischen Staatsanwälte greifen für ihre Ermittlungen auf die nationalen Rechtsgrundlagen der jeweiligen Mitgliedsstaaten zurück. Der rechtliche Rahmen ist daher im Wesentlichen bereits durch die ausdifferenzierte nationale Rechtsprechung abgesteckt. Das erweckt bei den nationalen Gerichten zuweilen den falschen Anschein, als würden sie es mit einer nationalen und nicht mit einer europäischen Behörde zu tun haben. 

Langfassung im StV 10/24Leider führt der Umstand, dass der Ermittlungsverfahren weitestgehend nach den nationalen Regelungen abläuft, auch dazu, dass man kritikwürdige und überwunden geglaubten nationale Verfahrensweisen und Argumentationsmuster auch in Ermittlungsverfahren der EUStA wiederfindet. 

So ist die Übernahme der in Deutschland etablierten Praxis, nach der die Staatsanwaltschaften den Ermittlungsrichtern die zu erlassenden Beschlüsse als Entwurf "vorschreiben", die – natürlich nur nach eingehender Prüfung – dann nur noch von den Ermittlungsrichtern unterzeichnet werden müssen, sicher kein Ruhmesblatt. 

Dass die EUStA diese Praxis übernimmt, dürfte zwar mehr mit der notorischen Überlastung der Ermittlungsrichter und der grundsätzlichen Billigung der Praxis durch das Bundesverfassungsgericht zu tun haben. Dennoch darf bezweifelt werden, dass diese Verfahrensweise in anderen europäischen Staaten zulässig ist, weil für die Verteidigung nicht ersichtlich und kaum überprüfbar ist, ob der Ermittlungsrichter den Sachverhalt vor Anordnung der Ermittlungsmaßnahme auf Grundlage der Ermittlungsakten tatsächlich geprüft hat. 

Offene Fragen für Strafverteidiger

Zwar bietet die Rechtsprechung wenig Neuerungen. Umso mehr (offene) Fragen ergeben sich jedoch in der Verteidigungspraxis. Dies hängt auch mit der aus deutscher Sicht einmaligen Organisation der EUStA zusammen. Weil am Ende des Ermittlungsverfahrens nicht – wie in Deutschland – der ermittelnde Staatsanwalt selbst, sondern die ihn beaufsichtigende Ständige Kammer entscheidet, ob Anklage erhoben oder das Verfahren eingestellt wird, ist der Wunsch der Verteidigung naturgemäß groß, Kenntnis von diesem Entscheidungsprozess zu erlangen. 

Die Kommunikation des Delegierten Europäischen Staatsanwalt mit der ständigen Kammer wird von der EUStA jedoch als rein interner Vorgang behandelt und daher nicht aktenkundig gemacht. Obwohl der Gedanke, eine andere Stelle nach dem Mehraugenprinzip über die Anklageerhebung entscheiden zu lassen, honorig ist, weil er größtmögliche Neutralität sichern soll, weckt der vollständige Ausschluss der Verteidigung aus diesem Entscheidungsprozess auch Misstrauen. Ob diese Praxis mit dem deutschen Verfahrensrecht immanenten Grundsatz der Aktenvollständigkeit vereinbar ist, werden Gerichte zu beurteilen haben. 

Auch das von der Verteidigung gerne gesehene Risiko eines "Forum Shopping", also der Wahl eines für die Sache günstigen Gerichtsstandortes, bleibt eine aktuelle Frage. Ob es hier seitens der EUStA tatsächlich in Einzelfällen zu einer missbräuchlichen Ausgestaltung des Verfahrens kommt, wird sich jedoch erst anhand empirischer Untersuchungen beurteilen lassen. Anhaltspunkte dafür sind gegenwärtig nicht ersichtlich.

Zusammenarbeit zwischen Ermittlern und Mitgliedsstaaten funktioniert

Die EUStA wächst und hat das Potenzial, sich als mächtige europäische Behörde zu etablieren. Neben dem jüngsten teilnehmenden Mitgliedsstaat Polen soll nun auch Schweden an der EUStA teilnehmen. 

Die Praxis zeigt zudem, dass die Zusammenarbeit zwischen den Delegierten Europäischen Staatsanwaltschaften der Mitgliedsstaaten funktioniert. Die grenzüberschreitenden Ermittlungen sind effektiv, auch und insbesondere, weil die EUStA-VO einen effektiven Rahmen für die Zusammenarbeit schafft. Angesichts dessen ist es nur eine Frage der Zeit, bis die sachliche Zuständigkeit der EUStA um weitere Deliktsfelder erweitert wird. 

Schließlich hat sich die Entscheidung, die jeweilige nationale Strafverfahrensordnung für die Ermittlungen der EUStA zu bemühen, bewährt. Die mit den Ermittlungsverfahren der EUStA befassten nationalen Gerichte befinden sich in gewohntem Fahrwasser. Am Ende obliegt es damit aber auch und gerade ihnen, sich nicht vom Glanz der neuen Behörde blenden zu lassen, die Besonderheiten der EUStA anzuerkennen und anhand der durch die jeweilige Verfassung gesetzten Rahmenbedingungen eine praxistaugliche Rechtsprechung für die vielen offenen Fragen zu etablieren. 

Autor Dr. Andreas Grözinger ist Fachanwalt für Strafrecht und Partner der auf das Wirtschafts- und Steuerstrafrecht spezialisierten Kanzlei Gercke Wollschläger in Köln. Er verteidigt regelmäßig in Ermittlungsverfahren der Europäischen Staatsanwaltschaft.
StV - Strafverteidiger

In dem Text hat der Autor ein Thema aufgegriffen, dem er sich auch im Editorial der Zeitschrift "StV – Strafverteidiger", Heft 10, 2024, gewidmet hat. Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.

Zitiervorschlag

Drei Jahre Europäische Staatsanwaltschaft: . In: Legal Tribune Online, 11.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55379 (abgerufen am: 12.09.2024 )

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