"Die Griechen haben Frau Merkel abgewählt", hieß es nach der Wahl der Syriza. Tatsächlich bestimmt derzeit die deutsche Regierung über griechische Sozialreformen – aber auch die griechische über die Verwendung deutscher Steuergelder. Das schürt Stereotype und schafft Nährboden für nationalstaatliche Kleinkrämerei, meint Thorsten Kingreen. Er plädiert für eine Stärkung der europäischen Gesetzgebung.
Seit Beginn der europäischen Krise reden wir in Europa immer öfter aneinander vorbei. Alte, längst überwunden geglaubte Stereotype werden wieder hervorgekramt. Seit dem Beginn der Krise bis zum heutigen Donnerstag, an dem Griechenland doch um Verlängerung der Finanzhilfen der Eurozone bat, verstehen wir allerdings unter "Krise" sehr Unterschiedliches.
In Mitteleuropa, namentlich in Deutschland, wird sie als Währungs- und Finanzkrise wahrgenommen, der man nur beikommen kann, wenn die kriselnden Staaten in Südeuropa die erforderlichen Strukturreformen in Angriff nehmen. Tatsächlich hat die Krise mehr als deutlich bewiesen, dass eine Währungsunion nicht funktionieren kann, wenn in der Finanz-, Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik jeder Mitgliedstaat mehr oder weniger machen kann, was er will.
Vor diesem Hintergrund wird, wer die Krise vor allem unter dem Aspekt der Währungs- und Haushaltsstabilität ansieht, die recht rauen Ansagen aus Athen mit berechtigter Irritation aufnehmen. Wie kann es sein, dass griechische Wähler mittelbar auch über die Stabilität anderer Staatshaushalte mitentscheiden? Neben diesen berechtigten Anliegen findet man an den Stammtischen der einschlägigen Internetforen auch Arroganz und die üblichen Vorurteile über den Griechen "an sich".
Gesellschafts- und sozialpolitisches Drama
In Griechenland wird die Krise hingegen als gesellschafts- und sozialpolitisches Drama wahrgenommen. Wenn Kinder morgens hungrig zur Schule kommen, 60 Prozent der Jugendlichen keine Arbeit haben, Menschen im Winter ihr Mobiliar zum Heizen verbrennen und die jährliche Selbstmordrate seit 2008 um etwa 50 Prozent gestiegen ist, dann geht es nicht primär um die Währung, sondern um Würde und Überleben.
Zwar trifft man auch in Griechenland bisweilen auf primitive Klischees und zum Teil verstörende historische Vergleiche, wenn die Rede auf Deutschland kommt. Die ganz überwiegende Zahl der Griechen weiß aber, dass die tieferen Ursachen für das Desaster weder in Berlin noch in Brüssel, sondern in Athen liegen.
Die Wahl vor wenigen Wochen richtete sich primär gegen die plutokratische Zwei-Parteien-Herrschaft der vergangenen Jahrzehnte, die enormen Reichtum in wenigen Händen und Armut und Perspektivlosigkeit bis in die bürgerliche Mittelschicht begünstigt hat. Kann man es den Menschen in Athen, für die das tägliche Leben ein Kampf geworden ist, verdenken, dass sie Syriza wählen, wenn ihre hyperreichen Landsleute auf ihren Luxusjachten in den Häfen von Ellinikó und Glyfada vor ihren Augen, aber außer Sichtweite des griechischen Fiskus im Champagner baden?
Die griechischen Einschnitte wären in Deutschland verfassungswidrig
Beide Perspektiven auf die Krise sind nachvollziehbar. Diese hat sogar noch eine weitere Komponente, nämlich eine verfassungsrechtliche. Griechenland ist u. a. dazu verpflichtet worden, massive Einschnitte bei Sozialleistungen und im Gesundheitswesen vorzunehmen und, besonders gravierend, nachträglich korrigierend in bestehende Altersversorgungszusagen einzugreifen. Die strikten Reformvorgaben mögen zwar langfristig den Staatshaushalt stabilisieren. Sie führen aber auch dazu, dass die sozialen Sicherungssysteme zur kurzfristigen politischen Krisenbewältigung weitgehend ausfallen.
Wären diese Verpflichtungen Deutschland auferlegt worden, hätte das Bundesverfassungsgericht sie aus einer Vielzahl von Gründen für verfassungswidrig erklärt: Es hätte die Kompetenz der Europäischen Union (EU) zur Regelung des materiellen Sozialrechts verneint. Den Eingriff in bestehende Versorgungszusagen hätten die Karlsruher Richter als unvereinbar mit dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzgrundsatz angesehen und für all diese Regelungen jedenfalls ein Parlamentsgesetz gefordert.
Rechtsgrundlage für diese Verpflichtungen ist der Vertrag über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), eine rechtlich verselbständigte Finanzinstitution mit eigenständigen Organen. Sie greift zahlungsunfähigen Mitgliedstaaten finanziell unter die Arme, wenn diese sich vertraglich mit der sog. Troika aus Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds zu bestimmten Reformen verpflichten.
2/2: Fundamentale Entscheidungen, getroffen in kleinen Fachbruderschaften
Dieser ESM ist, wie auch der die nationale Haushalts- und Finanzpolitik steuernde sog. Fiskalpakt, außerhalb der üblichen Rechtsetzungsverfahren der EU als völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Euro-Mitgliedstaaten abgeschlossen worden. So wurde der Widerstand insbesondere von Großbritannien umgangen. Gleichzeitig konnte man aber auch der EU-Kompetenzordnung ausweichen, die derart weitreichende Regelungen, wie sie gegenüber Griechenland getroffen wurden, wohl kaum gedeckt hätte.
Dieser Bypass über die intergouvernementale Zusammenarbeit ist in gewisser Weise konsequent, weil letztlich über Haushaltsmittel der Mitgliedstaaten entschieden wird. Aber er schwächt das Europäische Parlament, das in diesem Prozess der Krisenbewältigung nur Zaungast ist. Die wesentlichen Akteure sind neben der Kommission die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und die Troika, in der insbesondere die EZB ein Fremdkörper und dort offenbar selbst nicht mehr glücklich ist.
Die nationalen Parlamente werden hingegen darauf reduziert, die Entscheidungen der Exekutive abzusegnen; sie sind Notare, nicht Akteure dieses Prozesses. Der deutsche Bundestag musste die Verträge trotz ihrer erheblichen finanziellen Auswirkungen schon absegnen, um eine Regierungs- und eine diplomatische Krise zu vermeiden. Auch dem griechischen Parlament blieb gar nichts anderes übrig, als das zu beschließen, was vertraglich mit der Troika vereinbart worden ist.
Krisen sind, so heißt es oft, die Stunde der Exekutive. In Europa sind daraus Jahre der Exekutive geworden. Fundamentale Entscheidungen fallen nicht in Parlamenten, sondern in kleinen Fachbruderschaften, in denen zwar zum Glück auch ökonomische Vernunft institutionalisiert ist. Aufgrund der institutionell bedingten monetären Verengung haben aber die politischen und die sozialen Dimensionen der Krise ein zu schwaches Gewicht.
Gegen die nationalstaatliche Kleinkrämerei: stärkere europäische Gesetzgebung
Die Konzentration fundamentaler Entscheidungen in einem solchen kleinen Fachzirkel beschädigt das demokratische Prinzip, die (rechts-)politische Kultur und die europäische Verbundenheit. Weil ein gemeineuropäischer demokratischer Diskurs über die Krisenbewältigung fehlt, hat Griechenland sich genommen, was Europa ihm nicht ermöglicht hat: eine Entscheidung über den Sinn und Unsinn der Austeritätspolitik.
Wäre diese Diskussion im Europäischen Parlament und im Rat geführt worden, hätte sie im Rahmen des ordentlichen unionsrechtlichen Rechtsetzungsverfahrens zu verbindlichen Regelungen geführt, die kein Land mehr einseitig in Frage stellen könnte. So aber kann nun auch umgekehrt niemand das deutsche Volk daran hindern, bei nächster Gelegenheit diejenigen in politische Verantwortung zu wählen, die Deutschlands Ausstieg aus seinen Verpflichtungen zu betreiben versprechen.
Um diesen Rückfall in nationalstaatliche Kleinkrämerei zu verhindern, muss die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft gestärkt werden. Ihr müssen die Kompetenzen übertragen werden, die sie braucht, um zukünftigen europäischen Krisen mit den Mitteln demokratischer Rechtsstaatlichkeit zu begegnen.
Das wird überhaupt nicht einfach. Aus rechtlichen Kompetenzen folgt politische Macht, damit aber auch demokratische Beeinflussungsmöglichkeiten. Beides verbinden wir nach wie vor überwiegend mit dem Nationalstaat, und die "Entwöhnung" fällt insoweit schwer. Auch warten auf diesem Weg fundamentale Herausforderungen wie ein eigenständiger Haushalt für die Euro-Mitgliedstaaten und ein Abgabenerhebungsrecht der "Euro-Union".
Aber die wenig erquickliche Alternative ist, dass auch weiterhin die deutsche Regierung über griechische Sozialreformen und die griechische Regierung über die Verwendung deutscher Steuergelder mitentscheiden. Die Verhinderung der nächsten Krise muss die Stunde der europäischen Legislative werden.
Der Autor Prof. Dr. Thorsten Kingreen ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg und derzeit Gastwissenschaftler an der University of California in Berkeley.
Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Griechenland-Krise: Die Stunde der europäischen Legislative . In: Legal Tribune Online, 19.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14734/ (abgerufen am: 18.07.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag