2/2: Und die Verordnung zur Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit?
So weit, so schlüssig. Jedoch ist gleichzeitig mit der Unionsbürgerrichtlinie eine Neufassung der Verordnung zur Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit (VO (EG) 883/2004) in Kraft getreten. Anders als die Richtlinie garantiert diese allen EU-Bürgern ein Recht auf Inländergleichbehandlung, und zwar auch und gerade beim Zugang zu den sogenannten beitragsunabhängigen Sonderleistungen, zu denen die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II gehört, Art. 4, Art. 70 VO (EG) 883/2004. Nach der Verordnung ist ein Unionsbürger daher so zu behandeln, als wäre er Angehöriger des Staates, in dem er sich aufhält.
Für den Aufenthalt stellt die Verordnung keine Kriterien auf, sondern nimmt auf den Begriff des Lebensmittelpunkts Bezug, der allerdings nach rein tatsächlichen, nicht aber rechtlichen Kategorien zu bestimmen ist. Können deutsche Arbeitsuchende Grundsicherungsleistungen beanspruchen, müsste dies ebenso für Arbeitsuchende aus anderen Mitgliedstaaten gelten.
Das Spannungsverhältnis zwischen Richtlinie und Verordnung aufzulösen, durfte man wohl berechtigterweise vom EuGH erwarten. Dies bleibt der Gerichtshof aber schuldig. Stattdessen erklärt er die Aufenthaltsberechtigung nach der Richtlinie zur Voraussetzung der sozialrechtlichen Gleichbehandlung. Angedeutet hatte sich dieser Schwenk bereits in der Rechtssache Brey (Urt. v. 19.9.2013, C-140/12), in der es um Sozialleistungsansprüche eines deutschen Rentnerehepaars ging, das sich in Österreich niedergelassen hatte. Auch in der Rechtssache Dano (Urt. v. 11.11.2014, C-333/13) hatte der EuGH auf die fehlende Rechtmäßigkeit des Aufenthalts einer mittellosen Rumänin abgestellt, die keinerlei Bemühungen zur Arbeitsuche erkennen ließ.
Abkehr von der eigenen Rechtsprechung - ohne ein Wort der Erklärung
Die Abkehr von seiner eigenen Rechtsprechung zum sozialrechtlichen Teilhabeanspruch aus Unionsbürgerschaft, Unionsbürgerfreizügigkeit und Gleichbehandlungsgrundsatz erfolgt ohne jedes Wort der Erklärung. und es ist dem EuGH vorzuwerfen, warum er aus den kollidierenden Rechtsgrundlagen – Primärrecht, Unionsbürgerrichtlinie und Koordinierungsverordnung – ausgerechnet diejenige anwendet, die erst der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bedarf.
Sicherlich gebietet der Gleichheitsgrundsatz nicht, Personen Sozialleistungen zu gewähren, die ausschließlich zum Zwecke der Beschäftigungssuche in andere Mitgliedstaaten einreisen. Das ist nachvollziehbar, denn die bloße Arbeitsuche begründet noch keinen Lebensmittelpunkt; die Verantwortung des Herkunftsstaates für die soziale Absicherung bleibt erhalten. Frau Alimanovic indes konnte mehrere Gründe für ihren Aufenthalt in Deutschland anführen.
Zudem ist nach einem derart langen Inlandsaufenthalt wie ihrem durchaus fraglich, welches Land als "Herkunftsstaat" in der Pflicht ist, ihr ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen – Schweden, wo sie seit mehr als fünf Jahren nicht mehr lebt, oder gar ihr Geburtsland Bosnien, welches sie vor 20 Jahren verlassen hat?
Absurde Ergebnisse
Die heutige Entscheidung des Gerichtshofs wird die Debatte keineswegs beenden. Dies gilt umso mehr, als die Unionsbürgerrichtlinie, auf welche die Richter sich stützen, paradoxe Ergebnisse zur Folge hat. Arbeitsuchende haben nur dann ein Aufenthaltsrecht und damit einen Gleichbehandlungsanspruch, wenn sie bereits vorher in dem Mitgliedstaat gearbeitet haben, in dem sie Sozialleistungen begehren – und zwar für mindestens ein Jahr.
Haben sie weniger als ein Jahr gearbeitet, bestehen das Aufenthaltsrecht und Gleichbehandlungsanspruch für maximal sechs Monate fort. Wer den Aufenthaltsstaat nicht verlässt und seine Arbeitsuche fortsetzt, hat zwar kein Aufenthaltsrecht, wird aber gleichwohl nicht ausgewiesen, wenn die Arbeitsuche eine gewisse Aussicht auf Erfolg birgt. Zugleich geht der Anspruch auf sozialrechtliche Gleichbehandlung verloren.
Die absurde Konsequenz: Der Aufenthalt ist rechtswidrig, obwohl die Arbeitsuche Erfolg zu versprechen scheint; der Aufenthalt wird auch nicht zwangsweise beendet, aber seinen Lebensunterhalt muss der Arbeitsuchende aus eigener Kraft bestreiten.
Der deutsche Gesetzgeber wird sich durch den EuGH bestätigt sehen. Für ein Festhalten an der missglückten Regelung in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II besteht dennoch kein Grund. Motiviert sind die Leistungsausschlüsse vom Anliegen, eine "Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme" zu verhindern. Dies ist jedoch auch ohne die Sonderregelung zu verwirklichen. Anspruchsvoraussetzung für die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist nämlich der gewöhnliche Aufenthalt- und dieser wird durch einen kurzen Aufenthalt bloß zur Arbeitssuche noch nicht begründet. Dass aber der Lebensmittelpunkt von Frau Alimanovic in Deutschland liegt, hat der Generalanwalt bereits festgestellt.
Die Autorin Prof. Dr. Constanze Janda ist Professorin für Sozialrecht, Europäisches Arbeitsrecht und Zivilrecht an der SRH Hochschule Heidelberg. Sie ist Mitbegründerin des Netzwerks Migrationsrecht und setzt sich seit vielen Jahren mit den Rechtsfragen der sozialen Absicherung von Migranten auseinander.
EuGH: Kein "Hartz IV" trotz Arbeitssuche: . In: Legal Tribune Online, 15.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16903 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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