Der Sozialstaat darf bei der Sozialhilfe zwischen "Eigenen" und "Fremden" unterscheiden, entschied der EuGH am Dienstag. Mit zweifelhafter Begründung und absurden Konsequenzen, findet Constanze Janda.
In der Sache, über die der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag zu entscheiden hatte, begehrte eine schwedische Staatsangehörige Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV). Nazifa Alimanovic hatte bereits viele Jahre in Deutschland gelebt, ihre drei Kinder wurden dort in den neunziger Jahren geboren. 1999 wanderte die Familie nach Schweden aus, kehrte aber im Jahr 2010 nach Berlin zurück. Seit nun fünf Jahren lebt die gebürtige Bosnierin mit ihren Töchtern wieder in Deutschland und ging kurzfristig – für weniger als ein Jahr – einer geringfügigen Beschäftigung nach. Ihre ernsthaft betriebene Arbeitsuche blieb seither erfolglos, jedoch besuchen ihre minderjährigen Kinder in Deutschland die Schule.
Diese Umstände veranlassten den Generalanwalt Wathelet in seinen Schlussanträgen vom 27.3.2015 zu der Feststellung, dass Frau Alimanovic eine "tatsächliche Verbindung" zur Bundesrepublik habe, die ihr den Zugang zu den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende eröffne.
Der EuGH wollte sich dieser Einschätzung am Dienstag jedoch nicht anschließen: Ausländer, die nach Deutschland kommen, um Sozialhilfe zu erhalten, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, erhalten keine Leistungen der deutschen Grundsicherung, entschieden die Luxemburger Richter (Urt. v. 15.09.2015, Az. C 67/14 – Alimanovic).
EuGH bisher: Zugang zu Sozialsystemen bei tatsächlicher Verbindung zum Mitgliedstaat
Der Zugang zu den Leistungen sozialer Sicherheit ist seit jeher von der Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft abhängig. Es obliegt den Nationalstaaten, die Voraussetzungen für diese Zugehörigkeit zu bestimmen. Für EU-Bürger schien dieses hergebrachte Prinzip an Bedeutung zu verlieren, sind ihnen im Primärrecht doch das Recht auf Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) und Gleichbehandlung (Art. 18 AEUV) in allen Mitgliedstaaten garantiert.
Wie weit diese Rechte reichen, ob sie insbesondere den Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen anderer EU-Staaten eröffnen, war und ist Gegenstand langwieriger Auseinandersetzungen in Politik, Rechtsprechung und Wissenschaft. Es war der Europäische Gerichtshof (EuGH)selbst, der in den 2000-er Jahren die bis dahin verschlossene Tür zu den Leistungen sozialer Sicherheit auch für die sogenannten wirtschaftlich Inaktiven – Rentner, Studierende, Arbeitsuchende – öffnete. Begründet haben die Luxemburger Richter dies mit den primärrechtlichen Verbürgungen: Jeder habe einen Anspruch auf gleichberechtigten Zugang zu steuerfinanzierten Sozialleistungen, sobald er eine "tatsächliche Verbindung" zu dem Staat nachweisen kann, in dem er diese Leistungen begehrt (so grundlegend EuGH, Urt. v. Urt. v. 20.9.2001, C-184/99).
Diese tatsächliche Verbindung kann schlicht darin bestehen, dass der Anspruchsteller dort seinen Lebensmittelpunkt hat. Automatisch wird das bei Arbeitnehmern angenommen.
In früheren Entscheidungen bejahte der EuGH den Lebensmittelpunkt und damit die sozialrechtliche Teilhabe am Sicherungssystem des Mitgliedstaats aber auch für Studierende – ungeachtet dessen, ob sie ihr Studium schon abgeschlossen hatten oder nicht (EuGH, Urt. v. 11.7.2002, C-224/98). Auch Personen, die mit einem Familienangehörigen zusammenleben, der Staatsangehöriger des Aufenthaltsstaates ist, öffnete er die Tür (EuGH, Urt. v. 25.10.2012, C-367/11) ebenso wie für Personen, die im Aufenthaltsstaat über einen längeren Zeitraum tatsächlich Arbeit suchen (EuGH, Urt. v. 23.3.2004, C-138/02; Urt. v. 4.6.2009, C-22/08. Nur Urlauber (EuGH, Urt. v. 1.10.2009, C-103/08) und Personen, die keinerlei Anstrengungen zur Arbeitsuche unternehmen(EuGH, Urt. v. 11.11.2014, C-333/13), schloss Luxemburg bislang aus.
EuGH: Keine Sozialleistung ohne Aufenthaltsrecht
In der Rechtssache Alimanovic lässt der EuGH die primärrechtliche Perspektive gänzlich außen vor und stützt sich ausschließlich auf die in der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG ausgewiesenen Aufenthaltsvoraussetzungen. Nur wenn der Aufenthalt nach den Vorgaben der Richtlinie rechtmäßig sei, könne der Anspruch auf Gleichbehandlung, mithin auf Zahlung von Sozialleistungen bestehen.
Das Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat besteht – über drei Monate hinaus – nur, wenn der Betreffende einer Erwerbstätigkeit nachgeht oder aber seinen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten kann und über eine Krankenversicherung verfügt, Art. 7 RL 2004/38/EG.
Zugleich stellt die Richtlinie klar, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, Arbeitsuchenden ohne Aufenthaltsrecht Leistungen der Sozialhilfe zu gewähren, Art. 24 RL 2004/38/EG. Diese Ermächtigung hat der deutsche Gesetzgeber in § 7 Abs. 1 S. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) aufgegriffen und nicht im Inland Erwerbstätige sowie Personen, die ausschließlich zur Jobsuche in Deutschland sind und Asylbewerber vom Hartz-IV-Anspruch ausgeschlossen. Diese Einschränkung der Freizügigkeit Mittelloser und damit ihres Zugangs zu existenzsichernden Leistungen in anderen Mitgliedstaaten hält der EuGH für gerechtfertigt.
EuGH: Kein "Hartz IV" trotz Arbeitssuche: . In: Legal Tribune Online, 15.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16903 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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