"Sicherheitspaket" der Ampel: Darf man Dublin-Flücht­lingen die Leis­tungen strei­chen?

von Dr. Christian Rath

30.08.2024

Die Koalition will Leistungen für Asylsuchende ganz streichen, deren Asylverfahren in einem anderen EU-Staat stattfinden muss und kann. Das dürfte wohl nicht verfassungswidrig sein, vermutet Christian Rath.

Die Ampel-Koalition will Leistungen für Dublin-Flüchtlinge in vielen Fällen auf Null reduzieren. Das ist einer der wesentlichen Punkte des so genannten Sicherheitspakets, das die Ampel-Koalition am Donnerstagnachmittag vorstellte.

Von Dublin-Flüchtlingen spricht man, wenn ein Flüchtling nach der Dublin-III-Verordnung der EU Anspruch auf ein Asylverfahren in einem anderen EU-Staat hat, insbesondere weil er dort erstmals EU-Boden betrat. Dann muss er in diesen Staat zurückkehren, wenn er zwischenzeitlich weitergereist sein sollte.

Die Koalition hat nun beschlossen, dass Asylsuchende in Deutschland keinen Anspruch mehr auf Sozialleistungen haben, sobald der eigentlich zuständige Staat der Rücküberstellung zugestimmt hat. "Wenn der Flüchtling in diesem EU-Staat Anspruch auf Lebensunterhalt und Unterkunft hat, dann entsteht ihm kein Nachteil", sagte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Vorstellung des Sicherheitspakets. Justizminister Marco Buschmann (FDP) hofft, dass Betroffene dann freiwillig in das zuständige Land ausreisen.

"Bett, Brot und Seife" gilt heute schon

Unmittelbarer Anlass der geplanten Verschärfung ist der Fall des Solingen-Attentäters, der eigentlich nach Bulgarien rücküberstellt werden sollte, aber der Abschiebung entging, weil er sich am entsprechenden Tag nicht in seiner Unterkunft aufhielt. Nach einer Frist von sechs Monaten ging dann die Zuständigkeit für das Asylverfahren von Bulgarien auf Deutschland über und er konnte legal in Deutschland bleiben.

Manche Medien berichten nun, dass ausreisepflichtige Dublin-Flüchtlinge nur noch "Bett, Brot und Seife" bekommen sollen. Das ist wohl ein Missverständnis. Die Reduzierung der Leistungen für ausreisepflichtige Dublin-Flüchtlinge auf Essen, Unterkunft sowie Körper- und Gesundheitspflege ist bereits derzeitige Rechtslage, geregelt in § 1a Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz. Nur bei besonderen Umständen können auch weitergehende Leistungen für den persönlichen Bedarf gewährt werden. Diese bereits 2015 eingeführte Kürzungsmöglichkeit wird von den Ausländerbehörden schon jetzt genutzt.

Bei der nun geplanten Reform geht es tatsächlich um einen völligen Ausschluss von Leistungen. Wie dies in der Praxis dann aussehen wird, ist allerdings noch offen. Innenministerin Faeser sagte bei der Pressekonferenz auch: "In Deutschland muss niemand verhungern oder auf der Straße schlafen". Möglicherweise bekommen Betroffene dann nur noch Sachleistungen für Obdachlose, aber das ist derzeit noch Spekulation.

Geht der Gesetzgeber mit der Streichung zu weit?

Der Plan der Koalition wurde umgehend kritisiert. Der Dresdner Politikwisssenschaftler Hans Vorländer sagte: "Das physische Existenzminimum, was zum Überleben notwendig ist, muss gewährleistet werden, und hier stellt sich die Frage, wie man das bemisst. Wichtig ist dabei, dass der Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes gewahrt bleibt", sagte er. "Gar nichts mehr zu geben, wäre also klar verfassungswidrig." Vorländer ist Vorsitzender des Sachverständigenrats für Integration und Migration.

Auch die Organisation Pro Asyl hat die Pläne der Koalition kritisiert. "Vorschläge zur Streichung der Leistung für manche Asylsuchende" seien "absehbar verfassungswidrig", erklärte die Organisation am Donnerstag. "Das Bundesverfassungsgericht hat klar festgestellt: Sozialleistungen dürfen nicht aus vermeintlichen Abschreckungseffekten gestrichen oder willkürlich gekürzt werden." Pro Asyl nimmt hier Bezug auf die Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz von 2012 (BVerfG, Urt. 18.07.2012, Az. 1 BvL 10/10).

Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Das BVerfG hat noch nicht konkret entschieden, ob Leistungen zum Existenzminimum ganz gestrichen werden können, wenn die Asylsuchenden Anspruch auf diese Leistungen in einem anderen EU-Staat haben, der nach den Dublin-Regeln für ihr Asylverfahren zuständig ist.

Das Gericht hat aber 2022 erklärt, dass der Gesetzgeber von Asylsuchenden durchaus verlangen kann, "an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen" (Beschl. v. 19.10.2022, Az. 1 BvL 3/21). Dazu passt auch die Entscheidung des BVerfG zu Hartz IV-Sanktionen von 2019. Danach können die Sozialleistungen ausnahmsweise vollständig versagt werden, wenn die "Aufnahme einer angebotenen zumutbaren Arbeit" abgelehnt wird. Denn damit habe es der Bedürftige in der Hand, seine menschenwürdige Existenz selbst zu sichern (Urt. v. 05.11.2019, Az. 1 BvL 7/16).

Es ist also keineswegs sicher, dass das BVerfG eine Streichung der Sozialleistungen für Dublin-Flüchtlinge beanstanden würde.

Die zuständigen EU-Staaten haben andere Interessen

Das eigentliche Problem ist das Dublin-System selbst, wonach Deutschland fast nie für Asylverfahren zuständig wäre, weil es keinerlei EU-Außengrenzen hat. Das ist offensichtlich ungerecht und es ist deshalb durchaus nachvollziehbar, dass die EU-Staaten, die an den EU-Außengrenzen liegen, das Dublin-System unterlaufen, wo es nur geht.

Da die Streichung der Sozialleistungen für Dublin-Flüchtlinge zurecht an die konkrete Aufnahmebereitschaft des zuständigen EU-Staats geknüpft ist, wird es also wohl auch künftig viele Dublin-Flüchtlinge geben, die in Deutschland bleiben können und auch versorgt werden – weil nicht sie die Überstellung verhindern, sondern der zuständige EU-Staat.

Zitiervorschlag

"Sicherheitspaket" der Ampel: . In: Legal Tribune Online, 30.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55310 (abgerufen am: 01.09.2024 )

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