EuGH erweitert Klagerecht von Umweltverbänden: Revo­lu­tion im Ver­wal­tung­s­pro­zess­recht

Viele offene Fragen

Der Ausspruch des EuGH zu § 46 VwVfG ist die Klarstellung einer dort missverständlich formulierten Aussage, die bereits im Altrip-Urteil des EuGH vor zwei Jahren enthalten war. Im Grunde stellt der EuGH hiermit lediglich den Wortlaut des § 46 VwVfG wieder her, den die deutsche Rechtspraxis seit Jahrzehnten missachtet hat. Dort steht nämlich explizit, dass Verfahrensfehler allein dann unbeachtlich sein können, wenn der Beklagte - und nicht etwa der Kläger - nachweist, dass ein Verfahrensfehler für das genehmigte Projekt letztlich belanglos ist. Im praktischen Ergebnis bedeutet dies, dass viele Verfahrensfehler künftig zur Aufhebung der Projektgenehmigung führen müssen. Denn der Nachweis der Unbeachtlichkeit eines Verfahrenselements ist bei komplexen Entscheidungen schwer zu führen.

Indes lässt der EuGH Türen für die bisherige deutsche Rechtspraxis offen, die das vom EuGH offenbar gewollte Ergebnis teilweise auf den Kopf stellen könnten. Verfahrensfehler müssen nämlich bei Bürgern – nicht aber bei Umweltverbänden – einen subjektiven Bezug zum Kläger aufweisen. Absehbar werden Gesetzgeber und Gerichte in Deutschland daran anknüpfend versuchen, den größten Teil des Verfahrensrechts gegen Klagen zu immunisieren, weil sie vermeintlich nur der Allgemeinheit und nicht dem Kläger dienten. Ob der EuGH das mitmacht, ist offen, zumal der EuGH üblicherweise schneller als deutsche Gerichte umweltschützenden Belangen einen solchen subjektiven Bezug zuspricht.

Die deutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung wird zudem wohl versuchen, Verfahrensregeln dadurch von Klagen auszunehmen, dass sie nicht als Umweltrecht, zumindest aber nicht als EU-Umweltrecht eingestuft werden. Da bei sehr vielen umweltrelevanten Vorschriften diese Zuordnung kontrovers diskutiert werden kann, sind weitere Rechtsstreite vor dem EuGH vorprogrammiert.

Auch beim Verwerfen der materiellen Präklusion lässt der EuGH – gewollt oder ungewollt – Hintertüren für die unwillige deutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung offen. Missbräuchliches und unredliches Vorbringen darf nach dem EuGH nämlich auch künftig in Gerichtsverfahren ausgeschlossen bleiben. Extra als Kläger bestimmte Planungsfehler der Genehmigungsbehörde im Verwaltungsverfahren nicht anzusprechen, um sie dann im Gerichtsverfahren erfolgreich gegen ein Großprojekt anführen zu können, darf man also gesetzlich unterbinden. Jedoch ist eine Beweisführung darüber kaum sinnvoll möglich, so dass auch hier anhaltende Kontroversen auf politischer wie auch einzelfallbezogener Ebene zu erwarten sind.

Ausblick

Die beschriebenen Kontroversen werden in Deutschland bereits bei der jetzt wohl anstehenden unmittelbaren Anwendung des EuGH-Urteils zum Tragen kommen. Misslich wirkt sich an dieser Stelle aus, dass der EuGH seine Entscheidung wieder einmal nicht wirklich gut begründet, jedenfalls was die materielle Präklusion angeht. Hier hätte der EuGH die UVP-RL und die IED im Lichte des höherrangigen EU-Primärrechts auslegen und selbst eine differenzierte Lösung entwickelten können, statt mit allgemeinen Formeln wie Missbräuchlichkeit und Unredlichkeit zu arbeiten. Denn bei der Präklusion stehen primär- oder auch verfassungsrechtliche Belange wie etwa Rechtssicherheit, Gewaltenteilung und kollidierende Grundrechte einerseits wirtschaftlicher, andererseits ökologischer Art im Konflikt untereinander.

Planern wird das EuGH-Urteil wohl einen Schrecken einjagen. Auf einem ganz anderen Blatt steht die Frage, wie stark das Umweltrecht, das hier eingeklagt werden soll, in Deutschland und der EU tatsächlich ist. Wäre es so stark wie meist angenommen, wäre der ökologische Fußabdruck der Europäer wohl geringer. Zudem arbeitet die EU-Kommission aktuell eher in Richtung Abbau umweltrechtlicher Vorschriften, etwa im Bereich des Naturschutzes. Das Einklagen des Umweltrechts einschließlich der Frage, was sich dahinter verbirgt, bleibt daher eine unendliche Geschichte.

Der Autor Prof. Dr. Felix Ekardt, LL.M., M.A., ist Jurist, Philosoph und Soziologe an der Universität Rostock und Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig und Berlin. Er ist politikberatend zu Nachhaltigkeitsfragen tätig und arbeitet vor allem in den Bereichen deutsches, europäisches und internationales Energie-, Klimaschutz-, Landnutzungs- und Verfassungsrecht sowie transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung.

Zitiervorschlag

Felix Ekardt, EuGH erweitert Klagerecht von Umweltverbänden: . In: Legal Tribune Online, 20.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17279 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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