Kurz nach dem Urteil zu den Überhangmandaten erklärt das BVerfG das Wahlrecht für Auslandsdeutsche für verfassungswidrig. Die Voraussetzung, irgendwann einmal für drei Monate in Deutschland gelebt zu haben, verstoße gegen die Allgemeinheit der Wahl. Die Landeswahlgesetze enthalten noch strengere Anforderungen - und dürften dennoch verfassungskonform sein, kommentiert Eberhard Lopau.
Der aktuelle Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) reicht in seiner Bedeutung zwar nicht an die Entscheidung zu den Überhangsmandaten heran, aber immerhin mussten sich die Abgeordneten erneut ihr Verständnis von einer demokratischen Wahl vorhalten lassen. Vor dem Bundestag hatten Auslandsdeutsche vergeblich gefordert, dass sie 2009 hätten wählen gehen dürfen. Ihre Einsprüche wurden auf Empfehlung des Wahlprüfungsausschusses zurückgewiesen. Die Karlsruher Richter erklärten nun die zugrunde liegende Vorschrift des § 12 Abs. 2 S. 1 Bundeswahlgesetz (BWG) für mit Art. 38 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) unvereinbar, da sie gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verstoße.
Das BVerfG kippte damit eine frühere Entscheidung. Damals hielten es die Verfassungsrichter noch für mit dem Erfordernis der Allgemeinheit der Wahl vereinbar, Auslandsdeutsche von der Wahl auszuschließen, wenn diese sich nicht irgendwann für mindestens drei Monate ununterbrochen in Deutschland aufgehalten hatten (Beschl. v. 02.11.1990, Az. 2 BvR 1266/90).
Die Abweichung von der früheren Entscheidung erklärt das Karlsruher Gericht damit, dass sich die "rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen" seit 1990 erheblich verändert hätten. Der Hinweis des Gerichts ist vollkommen richtig, dass "die freie und offene Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten" nicht mehr nur während eines mehrmonatigen Aufenthalts im Land, sondern vor allem durch die interaktive Nutzung von elektronischen Medien vor sich gehe.
Und dennoch hat die Richterin Lübbe-Wolff eine abweichende Meinung zu der Entscheidung zu Protokoll gegeben, die sie mit dem bemerkenswerten Satz einleitet: "Sollten die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten gemeint haben, dass man sich an ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zumindest dann gefahrlos orientieren kann, wenn nichts dafür ersichtlich ist, dass sie innerhalb des Gerichts jemals umstritten gewesen wäre, muss der vorliegende Beschluss sie überraschen." Wohl wahr! Aber es ist gut und macht zu einem erheblichen Teil die Qualität des Gerichts aus, dass das BVerfG gelegentlich auch vor überraschenden Beschlüssen nicht zurückschreckt.
Aufenthalt zwischen 16 Tagen und drei Monaten
Das nun verworfene Dreimonatserfordernis lässt an den Regelungen in den Landeswahlgesetzen zweifeln, die sämtlich für das aktive Wahlrecht einen mehr oder weniger langen Aufenthalt im Land voraussetzen: In Nordrhein-Westfalen sind es beispielsweise 16 Tage, in Brandenburg ein Monat, krumme 37 Tage in Mecklenburg-Vorpommern und in den restlichen Bundesländern wie bisher im Bund drei Monate. Sind diese Fristen nun ebenfalls von dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit bedroht?
Nein. Der Beschluss des BVerfG berührt die Landeswahlgesetze nicht. Denn die Karlsruher Richter lassen die Dreimonatsfrist für Bundestagswahlen deshalb nicht mehr gelten, weil der Gesetzgeber frühere Anforderungen an die Sesshaftigkeit Schritt für Schritt zurückgenommen hat. Zunächst war nur zur Wahl berechtigt, wer einmal drei Monate in Deutschland gelebt hatte und noch nicht vor mehr als zehn Jahren weg gezogen war. Später wurde diese Fortzugsfrist für Auslandsdeutsche außerhalb der Mitgliedstaaten des Europarats auf 25 Jahre heraufgesetzt. Schließlich differenzierte der Gesetzgeber gar nicht mehr zwischen Auslandsdeutschen innerhalb und außerhalb der Mitgliedstaaten des Europarats und verzichtete ganz auf eine Fortzugsfrist.
Erst diese sukzessive Aufweichung des Sesshaftigkeitserfordernisses hat jetzt dazu geführt, dass das BVerfG die Vereinbarkeit der Dreimonatsfrist mit dem Grundgesetz anders beurteilte als zuvor. Die Landeswahlgesetze sehen aber sämtlich die Frist in ihrer ursprünglichen Form vor. Das heißt, die Bürger müssen am Tag der Wahl mindestens etwa seit drei Monaten in dem jeweiligen Bundesland leben. Der Grund für das Aufenthaltserfordernis ist eher technischer Natur. Den Wahlbehörden der Länder soll ausreichend Zeit verbleiben, die Wahlberechtigung ihrer Bürger zu prüfen und die Wahlunterlagen zu erstellen. Eine vergleichbare Frist im BWG, sozusagen eine Anmeldefrist zur Wahl für Auslandsdeutsche, müsste denn auch nach der aktuellen Entscheidung des BVerfG verfassungsgemäß sein.
Die Länder nehmen übrigens überwiegend einen Zeitraum von drei Monaten in Anspruch. Einige begnügen sich mit deutlich kürzeren Fristen. Eine befriedigende Erklärung für diese zeitlichen Diskrepanzen gibt es nicht.
Der Autor Prof. Dr. Eberhard Lopau war zuletzt Professor für Wirtschafts- und Sozialrecht an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim. Zuvor arbeitete er als Geschäftsführer von juristischen Fachverlagen sowie als Dozent für Wirtschaftsprivatrecht an der Universität Gießen.
BVerfG zum Wahlrecht von Auslandsdeutschen: . In: Legal Tribune Online, 15.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6841 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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