Der Abgleich von Nummernschildern mit Fahndungsdateien ist doch ein Grundrechtseingriff. Das entschied nun das BVerfG und korrigierte ein eigenes Urteil von 2008. Drei Landespolizeigesetze müssen nun nachgebessert werden.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) setzte sich in einer Leitentscheidung vor allem mit dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz auseinander (Beschl. v. 18.12.2018, Az. 1 BvR 142/15). In einem weiteren - kürzeren - Beschluss befassten sich die Richter mit den Polizeigesetzen in Baden-Württemberg und Hessen (Beschl. v. 18.12.2018, Az. 1 BvR 3187/10).
In Bayern bestehen 22 stationäre Anlagen zum Kennzeichen-Abgleich (vor allem an Autobahnen) und drei fahrende Systeme, die pro Jahr viele Millionen Nummernschilder scannen. Dabei werden die Nummernschilder abfotografiert, von einer Software in digitale Informationen übersetzt und mit Fahndungsdateien abgeglichen. Wenn kein Treffer vorliegt, wird die Information sofort gelöscht. Allerdings arbeitet die Software fehlerhaft und kann wohl die Zahlen O und 1 nicht von den Buchstaben O und I unterscheiden. Deshalb muss jeder "Treffer" von einem Polizisten kontrolliert werden. Über 90 Prozent der Treffer entpuppen sich dabei als "unechte Treffer" und werden ebenfalls sofort wieder gelöscht. Mit den echten Treffern werden vor allem Fahrzeuge erkannt, deren Halter die Versicherung nicht bezahlt haben.
Gegen den Kfz-Kennzeichenabgleich in Bayern klagte der Informatiker Benjamin Erhart. Es handele sich um "nutzloses Sicherheitstheater", das aber geeignet sei, die Bevölkerung einzuschüchtern. Er klagte sich durch die Instanzen, zunächst aber ohne Erfolg. Da er nicht in Fahndungsdateien registriert sei, liege schon gar kein Eingriff in Grundrechte vor, so das Bundesverwaltungsgericht 2014 - nicht einmal bei "unechten Treffern" (Urt. v. 22.10.2014, Az. 6 C 7.13). Dabei konnten sich die Leipziger Richter immerhin auf das BVerfG berufen, das 2008 entschieden hatte, nur im Fall eines Treffers liege ein Eingriff vor (BVerfG, Urt. v. 11.03.2008, Az. 1 BvR 2074/05 und 1 BvR 1254/07).
Abkehr von früherer Rechtsprechung
Dies hat der Erste Senat des BVerfG nun aber mit fünf zu zwei Richterstimmen korrigiert (der jüngst ausgeschiedene Vizepräsident Ferdinand Kirchhof nahm nicht mehr an der Abstimmung teil). Es handele sich schon bei der Erfassung der Nummernschilder und erst recht beim Abgleich mit Fahndungsdateien um die Verarbeitung personenbezogener Daten und damit um einen staatlichen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung. "Zur Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gehört es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich fortbewegen können, ohne (...) hinsichtlich ihrer Rechtschaffenheit Rechenschaft ablegen zu müssen", so die Richter. "Jederzeit an jeder Stelle unbemerkt registriert und darauf überprüft werden zu können, ob man auf irgendeiner Fahndungsliste steht oder sonst in einem Datenbestand erfasst ist, wäre damit unvereinbar", heißt es vollmundig in dem Beschluss.
Die Folge ist aber nicht die "Unvereinbarkeit" jedes Kfz-Kennzeichen-Abgleichs. Vielmehr muss der Eingriff durch ein Gesetz gerechtfertigt werden, das verhältnismäßig ist - was wiederum vom BVerfG kontrolliert wird. Die Karlsruher Richter sichern sich damit also vor allem die eigene Kontrolle. Künftig kann also jeder Bürger beim BVerfG eine Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Regeln zum Kfz-Kennzeichenabgleich einfordern - wie bei anderen heimlichen Polizeimaßnahmen auch.
Relevanz hat diese neue Definition des Eingriffs zum Beispiel auch für Maßnahmen der Gesichtserkennung. Bei einem Modellversuch zur Gesichtserkennung am Berliner Bahnhof Südkreuz wurden 2017 Hunderttausende Passanten fotografiert und die Bilder mit einer simulierten "Fahndungsdatei" abgeglichen. Innenminister Horst Seehofer will die Technik schon bald zum Schutz vor Terroranschlägen einsetzen. Nun ist klar, dass durch solche Maßnahmen auch Grundrechte derjenigen Passanten berührt sind, deren Gesicht in keiner Fahndungsdatei gespeichert ist.
Schleierfahndung im Kern gebilligt
Die Gesetzgebungszuständigkeit Bayerns stellten die Verfassungsrichter nicht in Frage, auch wenn bei der Nummernschild-Fahndung durchaus auch Straftäter gefasst werden könnten. Bei doppelfunktionalen Maßnahmen könne jedoch der Gesetzgeber entscheiden, wo er den Schwerpunkt sieht. Er müsse dieses Konzept dann aber auch konsequent umsetzen, etwa durch die entsprechende Auswahl der Referenzdateien, mit denen die Nummernschilder abgeglichen werden. Nur die Nutzung des Kennzeichen-Abgleichs zur Verhinderung unerlaubter Grenzübertritte könne nicht im Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (BayPAG) geregelt werden, da für den Grenzschutz eindeutig der Bund zuständig sei, so die Richter. Lediglich an diesem Punkt wurde eine BayPAG-vorschrift (Art. 13 Abs.1 Nr.5) für "nichtig" erklärt.
In der Verhältnismäßigkeitsprüfung beim bayerischen Kfz-Kennzeichenabgleich beschäftigten sich die Richter ausführlich mit der im BayPAG geregelten Schleierfahndung, der häufigsten Konstellation für Abgleich-Maßnahmen. Die Richter akzeptierten grundsätzlich die Schleierfahndung, die anlasslose Kontrollen mit Grenzbezug erlaubt. Sie sei gerechtfertigt, weil der Staat durch den Wegfall der Grenzkontrollen in der EU auf ein wirksames Kontrollinstrument verzichtet habe und dies durch anlasslose Kontrollen im Innern ausgleichen könne. Der Freiheitsgewinn durch die offenen Grenzen überwiege die verstärkte Kontrolle im Inland. Die Richter halten die Schleierfahndung sowohl in einem 30-Kilometer-Korridor an der Grenze für zulässig, wie auch an internationalen Verkehrseinrichtungen, etwa Flughäfen. Zu unbestimmt sei aber die Erlaubnis zur Schleierfahndung an "Durchgangsstraßen". Hier muss der bayerische Landtag nachbessern.
Auch mit Blick auf EU-rechtliche Anforderungen erklärte Karlsruhe die Schleierfahndung für verhältnismäßig. Danach muss es klare Regelungen geben, die verhindern, dass anlasslose Kontrollen im Inland die gleiche Intensität wie die alten Grenzkontrollen annehmen. Dem werden deutsche Gesetze bisher nicht gerecht, stellte im Februar 2018 der Verwaltungsgerichtshof Mannheim fest, auf den sich die Verfassungsrichter nun in Randziffer 152 des Beschlusses positiv beziehen. Hier dürfte eine der stärksten praktischen Wirkungen der Karlsruher Entscheidung liegen.
Bayern muss nun die Regelung zur Schleierfahndung bis zum Jahresende im BayPAG nachbessern. Das gleiche gilt für eine Handvoll weiterer Detailkritikpunkte der Verfassungsrichter. Unter anderem müssen künftig die Entscheidungsgrundlagen der Behörden beim Kennzeichenabgleich nachvollziehbar dokumentiert werden. Und bei der Zweckänderung von so erhobenen Daten müsse sichergestellt werden, dass auch die neue Verwendung dem Schutz erheblicher Rechtsgüter diene.
Noch keine Aussage zur "drohenden Gefahr"
Auf die jüngst vorgenommene Verschärfung des BayPAG, das Polizeimaßnahmen wie den Kfz-Kennzeichenabgleich schon bei einer "drohenden Gefahr" zulässt, gingen die Richter in diesem Urteil noch nicht ein. Sie dürften dies aber eher kritisch sehen, da sie auch nicht jede "konkrete Gefahr" als Rechtfertigung akzeptierten, sondern nur Gefahren für Leib, Leben und Freiheit von Menschen oder ähnlich wichtige Rechtsgüter.
In den Polizeigesetzen von Baden-Württemberg und Hessen beanstandeten die Richter ähnliche Punkte. In Baden-Württemberg monierten die Richter zudem, dass die polizeigesetzliche Grundlage für Kontrollstellen, die der Fahndung nach Straftätern dienen, formell verfassungswidrig sei. Hier handele es sich eindeutig nicht mehr um Gefahrenabwehr, sondern um Strafverfolgung. An solchen Kontrollstellen dürfe daher auch kein landesrechtlicher Kfz-Kennzeichen-Abgleich stattfinden.
Weitere gesetzliche Regelungen zum Kfz-Kennzeichenabgleich gibt es in Niedersachsen und Sachsen. Auch dort muss man sich die Karlsruher Entscheidungen jetzt genau ansehen. Eine Verfassungsklage von Piraten-Politiker Patrick Breyer gegen das Bundespolizeigesetz liegt in Karlsruhe bereits vor.
BVerfG zu automatisierter Kennzeichenerfassung: . In: Legal Tribune Online, 05.02.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33691 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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