2/2: Recht der Verdauung leitet zu Demut an
"Ein kauuntüchtiges Gebiß könne zwar zu einer Beeinträchtigung der Verdauung oder zu Magen-Darm-Erkrankungen führen", zitierte das Sozialgericht Hildesheim am 26. August 1970 ungerührt aus der älteren Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts. "Diese Möglichkeit allein genüge aber nicht, um die Notwendigkeit einer zahnärztlichen Behandlung zu bejahen", so das Bundessozialgericht am 12. Dezember 1972 (Az. 3 RK 67/70). Es verwarf die Revision eines Mannes, der Kostenerstattung für die Behandlung von vier verlorenen Zähnen forderte.
Haben Behörden und Gerichte heute häufig mit Übermaßproblemchen zu tun tun, ging es Anfang der 1970er-Jahre noch um das Gegenteil: Menschen, die gern physiologisch in der Lage wären, das Vorgesetzte zu verspeisen. Zugespitzt formuliert: Das Gebiss wurde hier als Eingang des Verdauungstrakts gesehen, nicht als Ort für kosmetische Inszenierungen, die heute mit zum Beispiel in Gestalt von Bleachings mit Rückstrahlwerten von Fahrrad-Katzenaugen oder allerlei Schmuckstein-Einbauten einen Trend ins Absurde haben.
Regelrecht zur Demut – ob nun in ihrer religiösen oder säkularen Geschmacksrichtung – leiten jene etwas unappetitlichen Entscheidungen an, die den Verlust menschlicher Handlungsfähigkeit im Bereich der Verdauung sowie das medizinische und sozialrechtliche Bemühen thematisieren, die Folgen dieses Verlusts aufzufangen: Mit Beschluss vom 30.Oktober 2008 musste das Landessozialgericht (LSG) Bayern beispielsweise Klarheit über den Anspruch einer "digitalen Enddarmausräumung" bei einer "77-jährigen vollständig immobilen, stark hinfälligen" Frau schaffen, bei der die Notwendigkeit "auf die natürliche Verdauung künstlich einzuwirken" an sich unstrittig war. Allein, die Krankenkasse hatte Sorge, dass der Pflegedienst das "Unvermögen zur natürlichen Stuhlentleerung" dazu nutzen könnte, der Patientin gehäuft per "digitaler Enddarmausleerung" auf den Leib zu rücken – was im Vergleich zu anderen Handhabungen stärker ins Geld geht.
Verdauung, wirklich ein Juristenproblem?
Der große Sozialtheoretiker und gelernte Verwaltungsjurist Niklas Luhmann (1927-1998) lehrte, dass die sozialen Teilsysteme Recht, Macht, Wirtschaft, Liebe, Wahrheit, Bildung, Kunst etc. als gleichsam geisterhafte Wesenheiten sich in Zeit und Raum fortschrieben. (Mitlesende Luhmannianer aus dem engsten Zirkel der Lehre mögen die Umschreibung verzeihen.)
Grundsätzlich ist der menschliche Körper für diese sozialen Teilsysteme ein Teil der biologischen Umwelt. Den eigenen Körper als "Umwelt" zu sehen, ist erst einmal unsympathisch (wenngleich es beim Verdauungstrakt ja naheliegt). Diese abstrahierende Perspektive erlaubt aber jedenfalls Richtern, sich bis zu einem gewissen Grad von Werturteilen etwa medizinischer Sachverständiger loszumachen. Beispielsweise wird die Frage, ob der Brechmitteleinsatz zu polizeilichen Ermittlungszwecken zulässig sein soll, neben Auskünften der medizinischen Wissenschaft auch von der körperlichen Selbstwahrnehmung der beteiligten Richterinnen und Richter abhängen.
Im Urteil des Landessozialgerichts Hessen vom 10. November 1976 (Az. L 3 U 587/75) ging es um einen Lufthansa-Kapitän, der auf dem Weg zwischen seinem Hotel und einem Restaurant von einem Auto angefahren worden war und daraufhin seinen Beruf aufgeben musste. An sich sollte man ein recht hohes Maß an Empathie unterstellen können, rangierten Lufthansa-Kapitäne damals vom sozialen Status her eher im Rang von Landgerichtsdirektoren mit der Lizenz, eine Boeing 747 zu fliegen denn im heutigen Rang von überbezahlten Lokomotivführern der Lüfte. Die LSG-Entscheidung lässt mit Händen greifen, dass dem Flugzeugführer daran gelegen war, die Restaurant-Hotel-Wege zu gehen, um am Abend zeitig zu essen, um dann gut schlafen zu können, im Ergebnis also gut erholt wieder ins Cockpit zu steigen.
Man stelle sich vor, die hessischen Sozialrichter hätten 1976 den Verdauungs- und Schlafbedürfnissen des Flugzeugführers, die Bundessozialrichter 1972 dem zahnverlustigen Kläger empathisch einen Höchstrang seiner Kau- und Verdauungswünsche eingeräumt – an wie vielen Stellen in juristischen Entscheidungsroutinen hätte das die Bewertungen dezent in andere Richtungen bewegt?
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Grenzgebiete der Jurisprudenz: . In: Legal Tribune Online, 26.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14211 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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