Regionale Umstrukturierung: Die Unf­reie Han­se­stadt Ham­burg

von Martin Rath

02.04.2017

2/2: Vor Groß-Hamburg kam Groß-Berlin

Im Kaiser- und preußischen Königreich lange diskutiert und doch stets gescheitert, nahm 1920 zunächst das sogenannte Groß-Berlin seine im Wesentlichen heutige Form an. Die verfassunggebende Preußische Landesversammlung schuf mit dem Groß-Berlin-Gesetz vom 27. April 1920 die neue Stadtgemeinde: Aus beschaulichen 66 Quadratkilometern Berlin wurden durch Eingemeindung des Umlands 878 Quadratkilometer.

Dieser für damalige Verhältnisse ungeheure Vorgang erfolgte nach rund 30 Jahren Reform-Diskussion – einer Debatte, in der Vorschläge zur Gebietsbereinigung gern im kontraktualistischen Framing dieser Epoche hängenblieben, um erst 1920 in Gesetzesform gebracht zu werden.

Große Flurbereinigung, vielleicht nur zur Unzeit

Eine erste Welle an Neusortierung von Gemeinden ging in den 1920er Jahren insbesondere durch die preußischen Provinzen, motiviert einerseits von wirtschaftlichen Erwägungen: Deutschland war nach dem Ersten Weltkrieg auf allen Ebenen der staatlichen Ordnungen mehr oder minder bankrott. Beispielsweise wurde die vergleichsweise vermögende rheinische Stadt Ohligs durch gesetzlichen Befehl aus Berlin im Jahr 1929 dem benachbarten Solingen zugeschlagen.

Andererseits ließ sich die Flurbereinigung  als Beweis politischer Tatkraft in der Hauptstadt und als Ausdruck besonderer Modernität verkaufen.

Unter diesem Stern stand insbesondere die zweite große Welle kommunaler Neuordnung in den 1960er und vor allem 1970er Jahre. In ihren Vorstellungen von einer "sozialtechnologischen Steuerung" der Gesellschaft verbanden Politiker und Verwaltungen alles, was sie um das Jahr 1970 herum für modern hielten: Steuerkraftberechnungen zu den zusammenzuführenden Gemeinden ließen kommunale Theater- und Opernhäuser finanzierbar erscheinen, städtische Eigenverantwortung schien antiquiert, sobald ein gewisser Anteil der Gemeindekinder fürs Abitur auf ein Gymnasium in der Nachbarstadt pendelte.

Auch die größten Errungenschaften des sozialkybernetischen Fortschritts - drei Meter hohe elektronische Datenverarbeitungseinrichtungen mit erbärmlicher Speicherkapazität, gemessen an dem Gerät, an dem dieser Artikel gerade gelesen wird – ließen sich nicht in jedem Dorf oder Weiler finanzieren.

Die südliche Bronx Düsseldorfs

So verloren zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre rund 16.000 Gemeinden in der Bundesrepublik ihre Selbständigkeit. In Nordrhein-Westfalen blieben beispielsweise von ursprünglich 57 Kreisen, 2.365 Gemeinden und 39 kreisfreien Städten nur 31 Kreise, 396 Gemeinden und 23 kreisfreie Städte übrig. Die Gerichte nahmen trotz zahlreicher Klagen nur selten Korrekturen vor.

Von den hunderten in Nordrhein-Westfalen beseitigter Gemeinden erhielten sich auf dem Klageweg nur Gladbeck, Meerbusch, Wesseling und Monheim die Selbständigkeit. Die letztgenannte Stadt machte in den 2010er Jahren mediale Furore, weil ihr ein beispielloser wirtschaftlicher Aufschwung gelang – kaum denkbar als südliche Bronx Düsseldorfs.

Stiefmütterlich behandelte Beute-Siedlungen

Natürlich sieht man vielen der durch gesetzlichen Befehl aus der jeweiligen Landeshauptstadt – im Fall der Hansestadt Hamburg aus der Reichshauptstadt – angeordneten zusammengeschlossenen Gebietskörperschaften immer noch an, dass sie vor 40, 80 oder sogar schon vor über 100 Jahren zusammengeschlossen oder von der großen Nachbarstadt gleichsam als steuerkräftige Beute ergriffen wurden.

Die augenfälligsten Kennzeichen sind dabei stillgelegte Rathäuser oder andere öffentliche Dienststellen. Gern fallen Fußgängerzonen und weitere Infrastruktur-Maßnahmen deutlich bescheidener aus als in der jeweiligen hegemonialen City.

Obwohl die Gebietsreformen oft mit zweifelhaften infrastrukturellen Vorzügen begründet wurden – etwa mit Skaleneffekten in der Planung von Schulangeboten, die inzwischen auch kleine Gemeinden schultern können, oder einer obsoleten kommunalen Groß-EDV-Ausstattung – und obwohl sich manche der neuen Verwaltungsgebilde als partiell handlungsunfähig herausgestellt haben: In einer bekannten Großstadt am Rhein erklärten sich trotz aller vom Zusammenschluss versprochenen Vorteile gleich drei kommunale Dienste flächendeckend dafür unzuständig, den Schnee von Straßenbahn-Haltestellen zu räumen, während der Stadtentwicklungsausschuss bevorzugt über Wappen auf kommunalen Gullideckeln verhandelte.

Es ist in Deutschland deshalb erstaunlich selten die Rede davon, die kommunale Gebietsreform einer Revision zu unterziehen. Nicht im Sinne einer völligen Neustrukturierung, sondern einer strikten Zuweisung von Aufgaben entsprechend dem sonst so oft gerühmten Subsidiaritätsprinzip.

Vorteilhafter als die ewiggleiche Forderung nach mehr direkter Demokratie, die raumlos in individueller Selbstherrlichkeit erschöpft, scheint die Wiederherstellung der politischen Gemeinde allemal.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Regionale Umstrukturierung: . In: Legal Tribune Online, 02.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22542 (abgerufen am: 24.11.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen