Historiker haben die Anfangsjahre des BGH aufgearbeitet. Aufgrund neuer Fundstücke konnten sie das Beratungsgeheimnis durchdringen, überraschend innovative, aber auch autoritäre Züge finden. Bei LTO spricht Andreas Roth zum ersten Mal über die Funde.
Herr Professor Roth, Sie haben rund fünf Jahre lang zur Geschichte des BGH in den Jahren 1950-1965 geforscht. Es ging um die Anfangsjahre des Gerichts und um die Kontinuitäten aus der NS-Zeit. Nun haben Sie kürzlich Ihre Arbeit abgeschlossen. Welcher Fund hat Sie am meisten überrascht?
Prof. Dr. Andreas Roth: Mit der Studie wollten mein Kollege Michael Kißener und ich herausfinden, wie stark die Richterpersonen und deren Biografien die Rechtsprechung des BGH geprägt haben. Gerichtsentscheidungen nehmen wir nämlich vor allem als Kollegialentscheidungen wahr: Da heißt es immer, “der Senat” oder “das Gericht” habe entschieden. Nicht selten steckt jedoch hinter einem Urteil maßgeblich der Einfluss einer einzelnen prägenden Richter- oder Richterinnenpersönlichkeit.
Wo hat sich das für Sie besonders deutlich gezeigt?
Dass die frühe Rechtsprechung des BGH eben nicht nur konservativ und rückwärtsgewandt, sondern auch innovativ war, zeigt sich etwa in der Entwicklung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, kurz APR – und zwar schon Anfang der 1950er-Jahre. Das Persönlichkeitsrecht stand nicht im Grundgesetz, wurde aber aus der Menschenwürde abgeleitet. Das war ein Meilenstein und eine klare Abweichung von der Reichsgerichtsrechtsprechung. Plötzlich bekamen Betroffene solcher Verletzungen Schadensersatz. Entscheidend dafür verantwortlich war die Richterin im I. Zivilsenat Gerda Krüger-Nieland, eine der ersten Frauen am BGH. Sie war bei den frühen BGH-Entscheidungen zum APR die Berichterstatterin. Vorher hatte sie bei einer Hamburger Urheberrechtskanzlei gearbeitet und ihr Wissen als Spezialistin mitgebracht, um dieses Recht zu entwickeln.
Der BGH war aber nicht nur progressiv und entwicklungsfreudig unterwegs …
Das ist richtig. Um beim besagten I. Zivilsenat zu bleiben: Der gleiche Senat hat 1953 in einem Gutachten in der Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau ein Vorrecht des Mannes in der Familie nicht für verfassungswidrig erklärt. Es drohe sonst "Anarchie in der Ehe". Das dürfte auf das stark naturrechtlich geprägte Verständnis des BGH-Präsidenten und Senatsmitglieds Hermann Weinkauff zurückgehen. Die Ehe sei eben von Gott gestiftet – und die Rollenverteilung auch, argumentierte der. Entgegengesetzter Auffassung war die Richterin Krüger Nieland aus demselben Senat, was sie auch in einer abweichenden Passage in diesem Gutachten zum Ausdruck brachte. Wir haben ein Schreiben von ihr gefunden. Sie schreibt: Weinkauff und ich waren Freunde, aber in dieser Frage der Gleichberechtigung waren wir gegensätzlicher Meinung.
Wie die Historiker den Richterinnen und Richtern auf die Spur kommen konnten
Nach außen treten die Urteile als Kollegialentscheidungen auf, die internen Diskussionen und Abstimmungen werden durch das Beratungsgeheimnis geschützt. Wie konnten Sie denn den Richterinnen und Richtern hinter den Urteilen auf die Spur kommen?
Mein Kollege Kißener hat Material gesammelt und die Richterbiografien erarbeitet, ich habe mir die Senatsentscheidungen angeschaut und dann die Biografien sozusagen nebendran gelegt. So konnten wir zum Beispiel im Mordprozess gegen den ehemaligen Volksgerichtshofsrichter Hans-Joachim Rehse, der den BGH als Revisionsinstanz erreichte, hinter die Kulissen des Urteils schauen. Das Urteil selbst fiel damals sehr knapp aus.
Was steckte dahinter?
Rehse hatte in der NS-Zeit an Todesurteilen mitgewirkt, das Landgericht hatte ihn wegen Mordes verurteilt. Die Verfahrensakten zeigen, dass der zuständige 5. BGH-Strafsenat um eine Entscheidung rang und offenbar auch besorgt um seine öffentliche Wahrnehmung war. Den Richtern war bewusst, dass sie in einer Zeit der Studentenunruhen auch im Fokus einer kritischen Öffentlichkeit standen, die sich um die schleppende Aufarbeitung der NS-Geschichte Gedanken machte. Dabei war man sich im Senat einig, dass Rehse nicht mehr bestraft werden kann, weil er nach Meinung des Senats nicht des Mordes, sondern allenfalls eines nun bereits verjährten Totschlags schuldig gemacht habe. Ein Richter hielt Rehses Handeln ohnehin für gerechtfertigt. Gewählt hat der Senat taktisch aber eine andere Lösung für sein Urteil: Er entschied nicht auf Freispruch, aber verwies den Fall zurück an das Landgericht Berlin. Die BGH-Richter überließen also lieber dem Schwurgericht die rechtliche Entscheidung über den Fall Rehse. Das entschied dann, wie rechtlich vom BGH-Senat vorbereitet, Rehse freizusprechen. Das lässt sich aus Voten, handschriftlichen Notizen, aber auch aus einem Leserbrief eines Richters rekonstruieren.
Der Fall Rehse ist ein Beispiel für den Umgang des BGH bei der Ahndung von NS-Unrecht. Welchen Eindruck haben Sie da gewonnen?
Es lässt sich in den BGH-Senaten das problematische Verständnis feststellen, dass NS-Unrecht nur von einem kleinen elitären Führungszirkel zu verantworten sei. Das dürfte auch dem weit verbreiteten Verständnis der Bevölkerung in der jungen Bundesrepublik entsprochen haben. Die BGH-Richterinnen und -Richter haben nicht die Weichen gestellt, um gerade die strafrechtliche Aufarbeitung voranzutreiben. Vielmehr haben sie im Strafrecht den Landgerichten neue rechtliche Möglichkeiten eröffnet, Irrtümer von NS-Tätern bei der Schuld zu berücksichtigen. Auch das Vorgehen im Fall Rehse ist vielsagend. Es bleibt ein bedrückender Eindruck.
"Die meisten Verfahrensakten lagerten noch im Keller des BGH"
Sie haben jetzt sehr die Rolle einzelner Richterinnen- und Richterpersönlichkeiten bei der Entscheidungsfindung betont. Diese haben aber auch planmäßig zusammengewirkt. Haben Sie so etwas wie Netzwerke zwischen den Richtern entdecken können?
Damit sprechen Sie etwas an, das man beim Reichsgericht als "Korpsgeist" kannte. So etwas konnten wir für den BGH nicht feststellen. Klar, es gab einzelne Freundschaften, die Familien haben sich besucht. Kartelle oder Absprachen haben wir aber nicht gefunden. Das mag auch an dem anderen Selbstverständnis der Richterinnen und Richter gelegen haben, das doch in Karlsruhe sehr viel bürgerlicher geprägt war als am Reichsgericht in Leipzig.
Wo haben Sie das Material für Ihre Studie gefunden?
Die meisten Verfahrensakten lagerten noch im Keller des BGH. Sie wurden nun aber an das Bundesarchiv übergeben. Damit sind sie für alle zugänglich. Ich habe Hunderte Urteile und Verfahrensakten gelesen, manchmal eine handschriftliche Notiz gefunden, Fachaufsätze der Richter, ihre Dissertationen. Interessanterweise gibt es im SWR-Archiv einige Hörfunksendungen, in denen damals BGH-Richter ihre Urteile erklärt haben.
Sie haben neben der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Unrecht auch andere eher alltägliche Rechtsprechungsbereiche des BGH untersucht, wie etwa das Familien- und Erbrecht, den Umgang mit Sexualität, die Bereiche Schule und Wirtschaft. Ist der "Schatten der Vergangenheit", von dem Sie in Ihrer Studie schreiben, auch in diesen Urteilen zu bemerken?
Ich konnte nicht feststellen, dass diese Rechtsprechung mit NS-Gedankengut belastet war. Dennoch muss man sich vergegenwärtigen, dass viele Richter der ersten Generation am BGH schon im NS-Justizsystem gearbeitet haben oder dort ausgebildet wurden. Ein autoritäres Weltbild oder ein militärischer Geist mag sich auch in einzelnen Entscheidungen niederschlagen. Das sind auch "Schatten der Vergangenheit", aber nicht unbedingt nationalsozialistische. Und es bleibt ambivalent. Etwa hatte ein BGH-Senat Anfang der 1950er-Jahre entschieden, dass die Prügelstrafe nicht mehr zeitgemäß sei. Zwei Jahre später entschied ein anderer Strafsenat das Gegenteil. In dem Votum kommt eine autoritäre Haltung deutlich zum Ausdruck.
Wie ging der BGH denn damit um, dass die Richterinnen und Richter mit zahlreichen Gesetzen und Richterrecht arbeiten mussten, die aus Vorzeiten stammten?
Das Reichsgericht ist in der untersuchten BGH-Rechtsprechung immer präsent. Unddas ist ja auch verständlich, das Bürgerliche Gesetzbuch stammt von 1900, das Handelsgesetzbuch ist noch älter, das Strafrecht stammt aus der Kaiserzeit. Es ist spannend zu beobachten, wie die BGH-Senate sich davon Stück für Stück abgesetzt haben. Das ging mal schneller, siehe die Entwicklung zum APR. In anderen Bereichen dauerte es länger. Dieser Spagat zwischen Fortführung und Abgrenzung war natürlich auch belastet.
Karlsruher Kräftemessen zwischen BGH und BVerfG
Wie der Bundesgerichtshof mit seiner Geschichte umgeht, das manifestierte sich für viele Beobachter auch im Umgang mit einer umstrittenen Gedenktafel im BGH-Gebäude. Die erinnert dort im ersten Stock seit den 1950er-Jahren an Reichsgerichtsjuristen, einige mit NS-Verstrickungen, die nach 1945 in Lagern der Sowjets zu Tode kamen. Haben Sie auch Neues zur Tafel herausgefunden?
Nur noch einige Briefkorrespondenz zwischen den Befürwortern der Tafel am BGH und dem Präsidenten Weinkauff. An den grundsätzlichen Einschätzungen zur NS-Belastung der dort Gedachten und dem Tauziehen um das Schicksal der Tafel beim BGH ändern diese Funde nichts. Wir haben dazu ein eigenes Forschungsprojekt durchgeführt und 2023 abgeschlossen.
Wie sind Sie zu dem neuen Projekt gekommen? Hat der BGH sie beauftragt?
Es war keine Auftragsarbeit des BGH, im Gegenteil. Wir sind an den BGH herangetreten, nachdem wir uns mit der besagten Tafel beschäftigt hatten. Der Kollege Kißener und ich hatten zuvor schon grundsätzlicher zur NS-Geschichte der Notare gearbeitet und wir fanden es wichtig, dass die Aufarbeitung der Geschichte des BGH nicht auf den Umgang mit der Gedenktafel beschränkt wird.
An vielen Bundesgerichten liefen oder laufen ebenfalls Aufarbeitungsstudien. Haben Sie sich mit anderen Teams ausgetauscht?
Ja, den Austausch gab es, wir waren 2024 mehrfach auf Tagungen und Treffen, etwa auch mit Projektgruppen, die die Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts oder des Bundessozialgerichts aufarbeiten.
Stichwort Bundesverfassungsgericht: Haben Sie etwas zum Verhältnis und zur Konkurrenz der beiden Karlsruher Gerichte herausgefunden?
In den 1950er-Jahren suchte der I. Zivilsenat von Präsident Weinkauff den Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht. Weinkauff war wohl der Auffassung, dass der BGH neben und nicht unter dem Bundesverfassungsgericht steht. Es ging um das historische Verständnis der Beamtenschaft zur NS-Zeit, aber auch grundsätzlich um ein Kräftemessen, wer das letzte Wort unter den höchsten Gerichten hat.
Haben Sie ein Beispiel?
Konkret war ein Fall zu entscheiden, in dem ehemaligen Gestapo-Beamten die Versorgung gekürzt werden sollte. Der BGH argumentierte, dem stehe Artikel 14 Grundgesetz entgegen, das BVerfG hatte das anders gesehen. Der BGH sah sich daran aber nicht gebunden. Der BGH-Senat argumentierte, dass sich § 31 BVerfGG, der die Bindungswirkung festschreibt, nur auf die Entscheidungsformel, aber nicht auf die Begründungen beziehe. Am Ende hat sich das BVerfG durchgesetzt, indem es die gesetzliche Regelung, mit der die Beamtenbezüge gekürzt wurden, für zulässig erklärte und - später - klarstellte, dass auch die Begründungen seiner Entscheidungen Bindungswirkung für die anderen Gerichte entfalten.
Vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Andreas Roth leitet den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Deutsche Rechtsgeschichte an der Universität Mainz. Er forscht unter anderem zur Familien- und Strafrechtsgeschichte sowie zum Familienrecht sowie zur Geschichte der Notare.
Die zweibändige Studie "Justiz im Umbruch - Die Geschichte des Bundesgerichtshofes 1950 bis 1965" erscheint im Dezember 2024 bei De Gruyter Oldenbourg, und auch Open Access.
Historiker legen Ergebnisse zur BGH-Geschichte vor: . In: Legal Tribune Online, 19.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55897 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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