Dass ein Vorlesungsboykott kein Streik ist, gilt heute als ausgemachte Sache. Vor 40 Jahren wurden jedoch arbeitskampfrechtliche Spielregeln durchaus in Betracht gezogen – nebenbei eine verpasste Station, über Akademisierung zu streiten.
Die persönliche Erinnerung hat manchmal einen bösen Charakter.
Als sich die rot-grüne Koalition im Jahr 2003 anschickte, einen Teil der Studierenden an den Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen mit Studiengebühren zu belasten und es im Protest darüber u.a. an einer großen Universität im Rheinland zu Vorlesungsboykotten kam, verrutschte anlässlich einer sogenannten Vollversammlung drei Studentinnen hörbar der Schlafzimmerblick auf die Stimmbänder:
Hatte sich zuvor ein junger Streikführer in energischer, aber um Argumentation bemühter Rede über die Ungerechtigkeit von Studiengebühren ereifert, ergingen sich seine Zuhörerinnen ausschließlich in einer Bewertung der körperlichen Attribute des Redners und erfreuten sich am Anblick seiner wilden Männlichkeit.
Nun wäre es gewiss um den Organisationsgrad der deutschen Gewerkschaftsbewegung viel besser bestellt, könnte sie um die Gunst des Publikums mit mehr als den optischen Reizen von Spitzengenossen wie Reiner Wendt oder Frank Bsirske buhlen – vom unschlagbaren Heinz Kluncker (ÖTV, 1925–2005) nicht zu sprechen.
Doch legte sich für den, der es mitbekam, spätestens mit diesem Beleg der politischen Urteilskraft der drei Studentinnen ein Schleier der Lächerlichkeit über das Vorhaben eines "Uni-Streiks" – ohne je ansatzweise über Analogien zum Arbeitskampfrecht nachzudenken.
Hochschule kürzte die Ausbildungsförderung
Doch mit Blick auf die große Zeit der studentischen Unruhen ist das ein bisschen unfair.
So setzte sich das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteil vom 30. März 1978 sogar mit der Anwendung eines arbeitskampfrechtlichen Instituts auf Fragen eines "Uni-Streiks" auseinander (Az. 5 C 20/76).
Dies war der Fall: Zwischen Oktober 1972 und Januar 1973 hatte die sogenannte Vollversammlung der Studentenschaft einer Fachhochschule den Boykott der Lehrveranstaltungen beschlossen, um gegen eine neue Prüfungsordnung sowie die Neuregelung der Ausbildung von Sozialarbeitern und -pädagogen in Schleswig-Holstein zu protestieren. Der Lehrbetrieb blieb lahmgelegt.
Die Hochschule verlangte daraufhin u.a. von einer Studentin, Klägerin in diesem Verfahren, die für diesen Zeitraum gezahlte Förderung zurück. Rechtsgrundlage war § 20 Abs. 2 des Bundesgesetzes über individuelle Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz, BAföG), der die Rückforderung für den Kalendermonat vorschrieb, "in dem der Auszubildende die Ausbildung aus einem von ihm zu vertretenden Grund unterbrochen hat". Das Verwaltungsgericht Schleswig hatte der Klage der Studentin u.a. mit dem Argument stattgegeben, sie habe das Studium infolge des Streiks nicht unterbrochen, da für die Vorlesungen kein Teilnahmezwang bestanden und sie sich anderweitig mit dem Ausbildungsstoff befasst habe.
OVG sah Studentin mitverantwortlich für Boykott
Das Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein gab hingegen der beklagten Hochschule recht, indem es zunächst die individuelle Verantwortung der Studentin benannte, sich trotz des Vorlesungsboykotts um die Teilnahme an Lehrveranstaltungen zu bemühen. Dabei hielt man ihr auch folgende erstaunliche Auffassung entgegen: Wegen des organisierten, zeitweiligen Fernbleibens von den Lehrveranstaltungen "müsse die Verantwortlichkeit wegen des Charakters als Massenerscheinung weitgehend losgelöst vom Anteil des einzelnen Studenten daran gesehen werden".
Kurz, die Studentin habe die Unterbrechung des Studiums schon deshalb zu vertreten, "weil ein solcher Boykott billigerweise dem Verantwortungsbereich der Studenten zugeordnet werden könne und müsse".
Das Bundesverwaltungsgericht machte mit dieser aus dem Arbeitskampfrecht entlehnten Rechtsaufassung aus Lüneburg recht kurzen Prozess: "Die Förderungsleistungen haben keinen Entgeltcharakter. Ihre Gewährung aus öffentlichen Mitteln ist auch nicht Ausdruck einer Risikoträgerschaft der öffentlichen Hand, die in einem Abhängigkeitsverhältnis von einem Kollektivverhalten der Auszubildenden gesehen werden könnte und dürfte. […] Der Student betreibt seine Ausbildung um der eigenen Qualifikation willen; durch die Ausbildung werden ihm die für die Ausübung eines Berufs und Broterwerbs erforderlichen Kenntnisse vermittelt. Die Folgen einer Unterbrechung der Ausbildung treffen insoweit ohnehin ihn selbst und nicht die Ausbildungsstätte."
Große Epoche der "Streiks" an deutschen Unis
Das Bundesverwaltungsgericht verwies die Sache zurück nach Lüneburg, weil noch zu klären sei, inwieweit die Studentin konkret die Unterbrechung ihrer Ausbildung zu vertreten habe, z.B. ob der Vorlesungsbetrieb tatsächlich zur Gänze lahmgelegt gewesen sei und sich die Studentin um die Teilnahme an Veranstaltungen bemüht habe, zu denen sie mit anderen lernwilligen Studenten möglicherweise ungehinderten Zutritt gehabt hätte.
Dass die Lüneburger Richter sich überhaupt daran gewagt hatten, einer einzelnen Studentin die Verantwortung für kollektive Kampfmaßnahmen der Studentenschaft zuzurechnen – versuchsweise einmal ohne Ermittlung der individuellen Pflichtverletzungen – ist nur vor dem historischen Hintergrund zu verstehen.
Diesen machten, hier sind sich die meist um die Legenden zu "1968" rankenden Erzählungen wohl einig, die bildungspolitischen und weltanschaulichen Kämpfe der späten 1960er sowie der 1970er Jahre aus.
So verhinderte die baden-württembergische Landesregierung beispielsweise 1972 den Auftritt des damals, fünf Jahre vor der Kontroverse um dem "Mescalero-Indianer" noch ordentlich in Hannover als Psychologie-Professor bestallten Peter Brückner (1922–1982) in Heidelberg unter Einsatz von mehr als 1.000 Polizeibeamten.
Bevor das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 29. Mai 1973 u.a. festlegte, dass die Hochschulorganisation bei "allen Entscheidungen über Fragen von Forschung und Lehre […] eine undifferenzierte Beteiligung der Gruppe der nichtwissenschaftlichen Bediensteten auszuschließen" (Az. 1 BvR 424/71; 325/72) habe, sahen sich die Professoren in ihrer Freiheit der Lehre und Forschung durch das Begehren von Studenten und Mittelbau ernsthaft bedroht, den Hochschulbetrieb zu "demokratisieren" – was nicht immer, aber wohl zumeist auf seine weltanschauliche Indienstnahme hinauslief.
Freilich wehrte sich, beispielsweise in Baden-Württemberg seinerzeit sogar der Ring Christlich-Demokratischer Studenten gegen Pläne der Landesregierung, die Hochschulautonomie insgesamt zurückzuschneiden – als Versuch "kaiserliche Kadettenanstalten" zu formen.
Anlässe, die Studentenschaft als amorphe Masse zu sehen, ergaben sich also nicht selten, der Griff zu arbeitskampfrechtlichen Figuren war schon insoweit nicht völlig abwegig.
Ein zweiter Ansatz zur Erklärung des Lüneburger Sphärenlehre-Versuchs lag aber auch schlicht im gerade erst 1971 beschlossenen Bundesausbildungsförderungsgesetz. Ein Blick in die Studienerlebnisse der älteren Generation macht das deutlich. Nicolaus Sombart (1923–2008) beispielsweise studierte in den späten 1940er Jahren noch in fröhlichster Freiheit, was die Wahl seiner Lehrveranstaltungen betraf.
Davon, wie viel Bohème bis dahin im Studentenleben steckte, zeugen glaubwürdige Berichte von juristischen Examensklausuren, die ohne ernsthafte Identitätskontrolle und mitunter von anderen als den Kandidaten selbst absolviert wurden. Kurz gesagt: Für die An- und Abwesenheit begann man sich von Staats wegen erst zu interessieren, als das Studium – wenn auch kläglich – gefördert wurde.
Johannes Rau freute sich
Von einem Politikern jener Zeit wäre zu erwarten gewesen, jeden Versuch klug abzuwägen, die kollektiven Interessen der Studentenschaft – soweit sie nicht im marxistischen Wolkenkuckucksheim angesiedelt waren –, auch kollektiv zu verhandeln.
Die bildungspolitischen Kontroversen der seither vergangenen 40 Jahre mag man sich nicht ausmalen, hätte sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 30. März 1978 dem Gedanken angeschlossen, die "Streiks" von Studenten seien analog zu arbeitskampfrechtlichen Figuren zu bewerten – so hässlich der Gedanke an "Kollektivverhandlungen" über Bildungsinteressen wirken mag: Urabstimmungen sind auch für Gewerkschaften eine ernste Übung.
Womöglich wäre der deutschen Gesellschaft ja der Weg in eine halbgare Akademisierung erspart geblieben, in deren Resultat an mancher Fachhochschule heute Bachelorarbeiten zum Abschluss genügen, mit deren Reifegrad noch vor 30 Jahren Abiturienten die Hochschulreife verfehlt hätten.
Es waren radikale Gedanken in den 1970er Jahren auf dem Markt. Georg Picht (1913–1982), der 1964 noch mit seiner Warnung vor der "Bildungskatastrophe" die Abiturientenschwemme mit verantwortet hatte, sprach sich 1972 beispielsweise dafür aus, das Abitur abzuschaffen, nach zehn Schuljahren eine praxisbezogene Berufsausbildung anzuschließen und die Universitäten älteren, reiferen Studenten vorzubehalten – Menschen, die lebenslang zwischen Praxis und Theorie, Studium und Beruf wechseln sollten.
Davon mag man halten, was man will. Aber ohne Organisation entsprechender Interessen, ohne die vage Drohung einer "Streikfront" bleibt derlei natürlich stets ein Blüten(alp)traum.
Dafür, wie alternativlos man schon damals dachte, gab der Wissenschaftsminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau (1931–2006), beredtes Beispiel: Dass protestierenden Studenten das Bafög gekürzt werden konnte, galt ihm allein als Instrument, ihre "Einsichtsfähigkeit" zu bewirken.
Angesichts der Chancen und Risiken für eine politische Aushandlung von Bildungs- und Gerechtigkeitsfragen, die sich im Urteil vom 30. März 1978 andeuteten, ist diese Haltung des SPD-Staatsmanns aus Wuppertal doch recht traurig.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, 68er wollten Unis demokratisieren: . In: Legal Tribune Online, 30.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27805 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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