Ohne Forschung und Sachverständige: Als Richter noch all­wis­send waren

von Martin Rath

04.12.2016

2/2: Slawische Libido senkt Verbrechenswahrscheinlichkeit

Die Fachzeitschrift wäre hierzu insofern eine gute Quelle höchstrichterlicher Zweifel gewesen, als es das führende Organ der zeitgemäßen Kriminalwissenschaften war. Zeitgemäß, das heißt natürlich in nicht geringen Teilen auch von mittlerer bis kruder Absurdität. "Die Bedeutung der Ohrmuschel für die Feststellung der Identität" etwa wird sich heute nicht mehr so erschließen können, wie sie es einem Dr. R. Imhofer, Ohrenarzt in Prag, 1906 (S. 150–163) tat. Auch die Auswertung der sächsischen Kriminalstatistik für die Jahre 1882 bis 1903 dürfte selbst unter den im Freistaat heute ansässigen Anhängern der älteren Rassenkunde kaum auf Begeisterung stoßen: Die größere Libido der "slawischen" Bautzener führe dort zu weniger Sexualverbrechen als unter den "germanischen" Zwickauern, erklärte ein Medizinalrat Dr. Näcke im Jahrgang 1906 (S. 353–355).

Doch publizierte der österreichische Strafprozessrechts-Professor Hans Gross (1847–1915) in seinem "Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik" auch große, um nicht zu sagen großartige Aufsätze, mit deren Hilfe die deutsche Justiz seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Gelegenheit hatte, ihrem Betrieb moderne, naturwissenschaftlich fundierte Methoden einzuverleiben. Ein Beispiel für diese etwas pathetische Behauptung gibt der Vortrag "Experimentelle Untersuchungen über die Zeugenaussagen Schwachsinniger" des Berliner Nervenarztes Dr. Siegfried Placzek.

In der Hauptsache führte Placzek den Beweis, wie anfällig geisteschwache und kindliche Zeugen für Suggestivfragen sind, wie unsicher und "konstruiert" ihr Erinnerungsvermögen ist. Dies testete Placzek unter anderem anhand experimenteller Zeugenaussagen zu Farben von Gegenständen, die er unter "schwachsinnigen" Kindern ermittelte. Überrascht liest man zum Kenntnisstand des Jahres 1904/1905 darüber hinaus: "Man könnte nun glauben, daß oberflächliche Beobachtungsart Schwachsinniger das Ergebnis verschuldete. Leider belehrt uns aber [William] Stern, daß auch Gesunde 'nicht einmal die Hälfte aller Farbenfragen (43,5 Prozent) richtig beantworten'".

Erste Stücke moderner Aussage- und Wahrnehmungspsychologie

Placzek fragte immer weiter. Und dies ließ sich ohne weiteres auf andere Wahrnehmungsfelder übertragen: "Ist angesichts solcher Ergebnisse der exper[imentellen] Psychologie wirklich noch erlaubt, daß Juristen sie nicht beachten und bei den bedeutungsschwersten Geschehnissen des Daseins, bei dem Kampf um ein Menschenschicksal, die menschliche Farbenperception immer noch als vollkommen und vollwertig benutzen […]? Ist ein solches Vorgehen auch dann noch statthaft, wenn nicht, wie in unserem Versuche, Beobachtung und Aussage sofort einander folgen, sondern Intervalle von Monaten und Jahren beide trennen?" (Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 1905, S. 22–62, hier S. 55).

Placzek schlug vor, "zur Feststellung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen" nicht etwa "eine neue Sachverständigen-Spezialität" einzuführen, sondern "den Psychiater und psychiatrisch gebildeten Gerichtsarzt" einzusetzen, "der mit den Lehren der Methodik der Aussagenpsychologie vertraut ist".

"Brain drain" aus Deutschland

Das Urteil des Reichsgerichts vom 4. Dezember 1906 illustriert in seinem Vertrauen auf den tatrichterlichen Sachverstand, wie unverschämt modern die Erkenntnisse des Berliner Nervenarztes waren. Die Reichsgerichtsräte brachten dieses Vertrauen  freilich noch sehr unschuldig auf – denn gemessen daran, was die deutsche Justiz kaum eine Generation später an realitätsblinden, geifernden und von Allmachts- und Ausmerzungsfantasien beherrschten Richtern nationalsozialistischer und sowjetzonaler Provenienz noch erleben sollte, war ihre freundliche Würdigung der unmittelbaren richterlichen Wahrnehmung von 1906 nur konservativ und harmlos.

Den Anschluss an moderne psychologische Methodik und Theorie suchte die Justiz wieder seit den 1950er Jahren. Über die Geschwindigkeit, in der sie das tat und tut, finden sich bis heute nicht immer nur freundliche Kommentare.

Dass die deutsche Justiz so lange brauchen würde, sich den Erkenntnissen moderner psychologischer Forschung zu öffnen und damit vom Lametta der heilig beeideten Zeugenaussage unterm Gerichtskreuz Abstand zu nehmen, um wenigstens in "hard cases" sachverständige Aussage-Gutachten einzuholen – diese zeitliche Kluft spiegelt sich beispielhaft auch im Schicksal von Dr. Siegfried Placzek wider. Er starb, seit 1939 in den USA lebend, 1946 im Alter von 79 Jahren in seiner Wohnung in New York, 665 West 160th Street. Der Stadtteil Washington Heights, wo sie zu finden ist, wurde von seinen jüdischen Mitflüchtlingen aus Deutschland scherzhaft "Viertes Reich" oder " Frankfurt-on-the-Hudson" genannt.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Ohne Forschung und Sachverständige: . In: Legal Tribune Online, 04.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21340 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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